| # taz.de -- Forscher über Migrationsdebatte: „Besonnene Stimmen werden gesch… | |
| > Die aktuelle Asyldebatte sieht der Migrationsforscher Hans Vorländer als | |
| > Ergebnis der politischen Logik. Er erklärt den Einfluss der Wissenschaft. | |
| Bild: Mannheim, 7. Oktober 2015: Geflüchtete, die mit einem Sonderzug aus Baye… | |
| taz: Herr Vorländer, das Thema Migration ist emotional sehr aufgeladen. Wie | |
| blicken Sie als Migrationsforscher auf die derzeitige Debatte? | |
| Vorländer: Die [1][aktuelle Debatte] entspricht den Logiken der Politik. Im | |
| Kontext von Wahlen versuchen Parteien, Aufmerksamkeit zu produzieren und | |
| vermeintliche Stimmungen aufzugreifen, um Stimmen zu gewinnen. Als | |
| Wissenschaft sollten wir versuchen, zur Versachlichung beizutragen. | |
| Migration ist eine komplexe Materie, und vieles funktioniert nicht so | |
| einfach, wie sich die Politik das vorstellt. | |
| taz: Reden wir über die Fakten. Wie ist die Lage wirklich – stehen wir kurz | |
| vor einer Überforderung? | |
| Vorländer: Deutschland hat seit 2015 sehr viele Geflüchtete aufgenommen. Ab | |
| 2022 sind noch mal ungefähr 1,2 Millionen Geflüchtete aus der Ukraine | |
| dazugekommen. Man muss es ernst nehmen, wenn der Städte- und Gemeindebund | |
| darauf hinweist, dass die Lage in den Kommunen sichtlich angespannt ist. | |
| Auch da gibt es aber unterschiedliche Belastungen, nicht alle teilen die | |
| große Klage. Zudem ist die Zahl der Asylsuchenden deutlich geringer als in | |
| den Jahren zuvor. | |
| taz: Wie erklären Sie es sich dann, dass jetzt vehementer denn je über | |
| Migration debattiert wird? Liegt das nur am [2][Attentat in Solingen]? | |
| Vorländer: Solingen war ein Katalysator, der die Debatte noch einmal | |
| angeheizt hat. Attentate erzeugen Ängste und geben einen Anlass für | |
| verschärfte politische Diskussionen. Bürger und Bürgerinnen erwarten, dass | |
| die Politik handelt, also reagieren Parteien darauf. | |
| taz: Ist das ein deutsches Problem? | |
| Vorländer: Nein, das lässt sich auch in anderen Ländern beobachten. | |
| Hierzulande kommen natürlich aktuell die Wahlen in Ostdeutschland | |
| verschärfend hinzu. Tatsächlich wird das Thema Migration aber seit vielen | |
| Jahren in Deutschland und in Europa am hitzigsten diskutiert. Ereignisse | |
| wie in Solingen verschärfen die Diskussion zusätzlich. Man muss natürlich | |
| trotzdem unterscheiden: Migration und islamistischer Terror sind zwei | |
| unterschiedliche Dinge, die auch ganz unterschiedlich beantwortet werden | |
| müssen. | |
| taz: Lassen Sie uns auf die Wissenschaft blicken. Wenn die Stimmung | |
| hochkocht, ist es schwer, bei den Fakten zu bleiben. Wie können wir es | |
| trotzdem schaffen, unaufgeregter und vor allem wissenschaftlich fundiert | |
| über Migration zu diskutieren? | |
| Vorländer: Es gibt vielfältige Möglichkeiten, wissenschaftliche | |
| Erkenntnisse in den öffentlichen Diskurs einzuspeisen. Unter anderem werden | |
| wir Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen von den Medien gefragt, wie | |
| wir die Lage einschätzen und einzelne politische Maßnahmen beurteilen. | |
| Wichtig ist daneben vor allem die langfristige, solide wissenschaftliche | |
| Arbeit, die in den verschiedenen Gremien geleistet wird. Unser | |
| Sachverständigenrat berät zum Beispiel nicht nur die Bundesregierung, | |
| sondern auch Länderregierungen, Verwaltungen und die Zivilgesellschaft auf | |
| ganz unterschiedliche Art und Weise. | |
| taz: Wie sieht ihre Beratung aus? | |
| Vorländer: Wir liefern etwa Stellungnahmen und Jahresgutachten. Klare | |
| Positionen auf der Grundlage von wissenschaftlichen Erkenntnissen führen | |
| bei den Experten und Expertinnen schon zu einer Versachlichung der Debatte. | |
| Allerdings ist die politische Logik der Aufmerksamkeitserzeugung gerade in | |
| solch angespannten Situationen ein anderes Feld. Dort bleiben | |
| wissenschaftliche Erkenntnisse zunächst außen vor. | |
| taz: Wie steht es denn grundsätzlich um die Migrationsforschung in | |
| Deutschland? | |
| Vorländer: Die Migrationswissenschaften sind in den vergangenen Jahren | |
| ausgebaut und stärker gefördert worden. Sie wurden auch öffentlich stärker | |
| beachtet. Mittlerweile werden sie in der ganzen Breite ihrer Perspektiven | |
| wahrgenommen. | |
| taz: Haben Sie den Eindruck, dass Sie und andere Migrationsforscher | |
| überhaupt in die öffentliche Debatte durchdringen? | |
| Vorländer: Ich denke schon. Wir erhalten in diesen Tagen viele | |
| Rückmeldungen, die zeigen, dass besonnene Stimmen wertgeschätzt werden. Wir | |
| haben keinen Zweifel daran, dass unsere wissenschaftsbasierten, fachlichen | |
| Stellungnahmen gehört werden und zur Versachlichung beitragen. Gleichzeitig | |
| wissen wir, dass es in zugespitzten Situationen Grenzen dafür gibt, was wir | |
| beeinflussen können. Langfristig haben wir diesen Einfluss dennoch, weil | |
| wir nicht nur mit den Spitzen der Politik zusammenarbeiten, sondern auch | |
| mit jenen Ebenen, die Entscheidungen vorbereiten. | |
| taz: Welche Ebenen meinen Sie? | |
| Vorländer: Das sind ganz generell diejenigen, die Gesetze machen. Aus den | |
| Ministerien, dem Bundestag, den Landtagen. Dort werden zum Beispiel | |
| Integrations- und Teilhabegesetze gemacht. Vor diesen | |
| Gesetzgebungsprozessen gibt es immer Diskussions- und Beratungsrunden, bei | |
| denen Sachverständige eingeladen werden. In diesen Runden hören sich | |
| Staatssekretäre, Amtschefs, Abteilungs- und Referatsleiter an, was die | |
| Wissenschaft zu sagen hat, und gestalten ihre Gesetzentwürfe | |
| dementsprechend. Dass die politische Entscheiderebene nachher vielleicht | |
| anders agiert, weil sie nach einer politischen Logik funktioniert, ist uns | |
| bewusst. | |
| taz: Wenn Sie diese Beratungsarbeit leisten und auf der unteren und | |
| mittleren Entscheidungsebene damit auch durchdringen, auf der höchsten | |
| politischen Ebene dann aber andere Regeln gelten, frustriert Sie das? | |
| Vorländer: Nein. Im Wissenschafts-, im Beratungs- und im politischen | |
| Entscheidungsbereich gibt es unterschiedliche Ebenen. Auch Wissenschaftler | |
| und Wissenschaftlerinnen haben unterschiedliche Positionen, die jedoch | |
| immer sehr sachlich begründet werden müssen. Wir können Szenarien und | |
| Möglichkeiten unterbreiten, aber entscheiden muss letztlich die Politik. | |
| taz: Fällt Ihnen ein Beispiel für gelungene Wissenschaftskommunikation im | |
| Bereich Migrationsforschung ein? | |
| Vorländer: Wir wünschen uns zunächst, dass die Erkenntnisse der | |
| Wissenschaft zur Kenntnis genommen werden. Bei der Reform des | |
| Staatsangehörigkeitsrechts sind beispielsweise Positionen, die der | |
| Sachverständigenrat schon lange bezogen hat, sehr ernst genommen und zum | |
| Teil auch umgesetzt worden. Aber wir können nicht erwarten, dass alle | |
| Empfehlungen umgesetzt werden. Das wäre vonseiten der Wissenschaft | |
| vermessen. Man muss einfach respektieren, dass die Politik durchaus | |
| selektiv mit den Erkenntnissen umgeht und sie auch nach anderen | |
| Gesichtspunkten bewertet. | |
| taz: Auf welchen Aspekt achtet sie denn besonders? | |
| Vorländer: Die Politik muss vor allem die Frage klären, ob Maßnahmen | |
| akzeptiert werden. Auch in der Migrationswissenschaft ist in den letzten | |
| Jahren besser erkannt worden, dass es in einer Demokratie immer um die | |
| Akzeptanz von Maßnahmen geht. Durch das Anwachsen von rechtspopulistischen | |
| und rechtsextremen Gruppierungen verhält sich auch die Gesellschaft | |
| mittlerweile ablehnender gegenüber ungesteuerter Zuwanderung. Das muss die | |
| Politikwissenschaft bei ihren Vorschlägen zu Migration und Integration | |
| mitbedenken. | |
| taz: Kann man als Wissenschaftler also nur Maßnahmen vorschlagen, die von | |
| der Gesellschaft auch akzeptiert werden? | |
| Vorländer: Man sollte sich zur Frage der Akzeptanz jedenfalls Gedanken | |
| machen. Ich lerne daraus, dass die großen, manchmal alarmistischen Diskurse | |
| kontraproduktiv für die konkrete Bewältigung von Problemen sind. Wenn die | |
| Wissenschaft hier mehr konkrete Vorschläge für die zielorientierte und | |
| effektive Umsetzung von Maßnahmen machen würde, wäre schon sehr viel | |
| gewonnen. | |
| 21 Sep 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Nico Preikschat | |
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