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# taz.de -- Die Wahrheit: Mein Leben als Hotelzimmerautor
> Kunst braucht Geld. Vor allem für standesgemäße Absteigen ermatteter
> Kulturschaffender.
Neulich bin ich in Nürnberg gestrandet, abends um 22 Uhr, weil kein Zug
mehr nach Wien fuhr. Aber bevor das hier die x-te Kolumne über die
Versäumnisse der Deutschen Bahn wird, nur so viel: Zwei Bahnbedienstete am
Serviceschalter, ein stehender Zug und jede Menge Zettel wiesen darauf hin,
dass die Fahrgäste „in Vorleistung gehen“ sollten, was ihr Hotel betraf.
Das Hotel war das Leonardo, ein Kettenhotel der modernen Art, fünf Minuten
vom Bahnhof entfernt. Im Foyer arbeiteten auch nur zwei Nachtportiers, die
ihre Sache umständlich, aber immer noch schneller als die Leute von der
Bahn erledigten, während im Hintergrund auf vier Leinwänden
unterschiedliche Studiomusiker große Pop-Hits nachspielten; nach jedem Lied
wechselte die Besetzung. Und zwar komplett. Sehr erstaunlich. Wer waren
diese Musiker alle? Und warum spielten die hier ein virtuelles Live Aid für
Hotelkettengäste?
Um 24 Uhr lag ich im Hotelbett, nur eine laute Schiebetür von der Toilette
entfernt, was meinen Glauben stärkte, dass Hoteldesigner noch nie selbst in
einem Hotel abgestiegen sind. Immerhin war ich alleine, also machte das mit
der Schiebetür nichts.
Als ich auf das leise Brummen der Klimaanlage lauschte, irgendwo im siebten
Stock über Nürnberg, dachte ich, dass ich das doch immer gewollt hatte: ein
Leben in von staatlichen Institutionen bezahlten Hotelzimmern. Das war es
doch. Das Leben als Autor. Hatte ich nicht kürzlich in der Zeitung von
einer gelesen, die genau das hatte?
Richtig, in der vermutlich industriell bezahlten Beilage des Spiegel namens
S-Magazin stand ein Artikel von ihr. Der Teaser hob an mit: „Autorin Ilona
Hartmann flüchtet gern vor der Verantwortung in ein Hotel in Berlin, der
Stadt, in der sie wohnt. Weil ihr das Wohnen manchmal zu viel wird, hat sie
dort auch ihr letztes Buch geschrieben.“
Von der „Autorin“ Ilona Hartmann hatte ich zwar noch nie gehört, aber es
gab bereits einen zweiten Roman von ihr bei einem angesehenen Verlag. Wie
machte die das? Wer bezahlte ihr Leben? Und welche Art von Leuten
produziert solche Sätze: „Oh, das Wohnen ist mir zu viel geworden! Wohnen,
ey! Boring! Ich geh jetzt ins Hotel und schreibe dort mein letztes Buch.
Folgt mir auf Insta.“
Ich möchte nicht neidisch klingen, klinge aber neidisch. Und zwar gern.
Vielleicht wohnte sie ja in den Outskirts namens Lichtenberg-Ost, und jedes
Mal, wenn keine U-Bahn mehr dorthin fährt, muss die BVG ihr ein Hotel
bezahlen? Wohl kaum, denn U-Bahn wird sie langweilen, weshalb sie immer
Taxi fährt. Also nicht selbst, nein, nein.
„Früher habe ich versucht, mich in Airbnbs zu erholen“, stand da noch
mitten in Ilona Hartmanns Text. Vielleicht ist die Zeit angebrochen, dachte
ich in meinem vorgeleisteten Hotelzimmer in Nürnberg, da Kunst nur noch von
Reichen für Reiche produziert wird. Ich sollte mich unten in der Lobby als
dritter Nachtportier bewerben.
18 Sep 2024
## AUTOREN
René Hamann
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Literatur
Hotel
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Kolumne Press-Schlag
Krimis
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