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# taz.de -- Lieferfahrer aus Südasien: Nur nicht ins Schlingern kommen
> Die meisten der „Rider“, die für Lieferando und Co. radeln, stammen aus
> Südasien. Unsere Autorin hat sich einige ihrer Geschichten erzählen
> lassen.
Bild: „Rider“ ist kein ungefährlicher Job – besonders im Berliner Winter
Berlin taz | Rahul* kommt im August 2023 nach Berlin. Er stammt aus dem
Nordosten Indiens, vor Corona betrieb er ein Schuhgeschäft in Delhi.
Während der Pandemie hat er beschlossen, ein Studium im Ausland
aufzunehmen. Im Internet fand er heraus, dass die Gebühren an
Privatuniversitäten in Deutschland niedriger sind als in den USA oder
Großbritannien – und dass in Deutschland Arbeitskräftemangel herrscht. Über
die Plattform UpGrad bekommt er einen Platz an der Internationalen
Fachhochschule (IU) in Berlin.
In der deutschen Hauptstadt angekommen, bewirbt er sich als Kurierfahrer
bei Lieferando – und hält bald einen unbefristeten Arbeitsvertrag in
Händen. Ein firmeneigenes Fahrrad und einen Helm soll er in Kürze
bekommen, heißt es, er könne sich aber schon die Fahrer-App herunterladen
und loslegen. Das tut er. Rahul nimmt Schichten an, er findet Freunde unter
den anderen „Ridern“, wie sich die Kurierfahrer nennen. Auf seinem Handy
hört er alte Hindi-Songs, während er durch Berlin radelt und Essen
ausliefert. Daneben geht er seinem Studium nach.
Auf das Firmenrad und die Sicherheitsausrüstung wartet er weiter. Man sagt
ihm, er werde sie bald bekommen. Irgendwann hört er auf zu fragen. An einem
Januartag kommt er im Schnee ins Schleudern, stürzt und verletzt sich.
Rahul verbringt einige Tage im Krankenhaus. Als es ihm wieder besser geht,
öffnet er die App: Sie funktioniert nicht mehr. Auf seine Nachfrage erfährt
er von einem Vorgesetzten, dass man ihn entlassen hat.
Er spricht mit dem Betriebsrat, der ihm rät, gegen Lieferando zu klagen.
Dass es diese Möglichkeit gibt, war ihm vorher gar nicht bewusst. Im April
dieses Jahres gewinnt er vor dem Arbeitsgericht gegen den Lieferdienst,
aber wie ein Sieg fühlt es sich nicht an: Dafür hat es zu viel Zeit und
Energie gekostet.
Rahuls Geschichte ist nur eine unter vielen negativen Erfahrungen von
Ridern, die wie ich aus Indien kommen. Seit ich in Berlin lebe, staune ich,
wie viele meiner südasiatischen Landsleute in orange, blau oder rosa
leuchtenden Uniformen auf dem Fahrrad unterwegs sind. Oft höre ich sie in
einer unserer vielen Sprachen telefonieren. Bei schönem Wetter kein
unangenehmer Job, wie es scheint – wobei ich inzwischen von Ridern erfahren
habe, dass die Auftragslage im Winter deutlich besser ist: „In winter they
hire, in summer they fire“, sagte mir einer. Und ich habe erfahren, dass
viele vor Ende der Probezeit entlassen werden.
## Aus Hyderabad nach Berlin
An einer Stelle meiner täglichen Wege gibt es besonders viele südasiatische
Rider mit pinken Helmen – Flink betreibt hier ein Verteilzentrum. Yash* ist
einer der Schichtleiter, er kam im vergangenen Sommer aus dem indischen
Hyderabad für ein Doppelstudium nach Berlin: einen Master of Science in
Pharmazie an der Freien Universität Berlin und einen Master of Business
Administration in Health Care Management an der Internationalen
Fachhochschule.
Leicht war es nicht, die Plätze zu bekommen, jetzt will er das Beste daraus
machen und irgendwann nach Indien zurückgehen. Warum Deutschland? Er habe
angenommen, dass es hier für Migranten sicherer sei als in den USA oder
Großbritannien, sagt Yash, Berlin sei eine multikulturelle Stadt.
Im Moment ist er mit seinem Job zufrieden: Er hilft ihm, während des
Studiums seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Im Gegensatz zu Kollegen,
die den ganzen Tag arbeiten und auf ein Privatleben verzichten müssen,
hatte er als Mitglied einer ethnischen Minderheit das Glück, mit einem
Stipendium seines Bundesstaats Telangana nach Deutschland zu kommen.
Im März reiste Yash während der Semesterferien zur Hochzeit eines Cousins
nach Indien. Viele Rider könnten sich so etwas nicht leisten, sagt er. Die
jungen Männer stünden unter enormem Druck, Kredite zurückzahlen. Oft hätten
sie nicht einmal Zeit für eine ordentliche Mahlzeit zwischendurch. Um 2.500
bis 3.000 Euro im Monat zu verdienen, arbeiteten sie bis zu 14 Stunden am
Tag – neben ihrem eigenen Vertrag nutzten sie dafür die Ausweise anderer
Fahrer, die nicht mehr für das Unternehmen arbeiten oder pausieren. Diese
Ausweise werden für bis zu 500 Euro im Monat „vermietet“.
Ein anderer Rider, der anonym bleiben will, sagt mir, er verstehe das
System nicht: „Essen ausliefern ist keine leichte Arbeit. Wir müssen uns um
unsere Verpflegung selbst kümmern, wir sind dem Wetter und dem Verkehr
ausgesetzt. Aber wir werden innerhalb der Firma am schlechtesten bezahlt.“
Das Mindeste, was die Unternehmen tun könnten, sei, für die
Verkehrssicherheit der Rider zu sorgen. „Immerhin nutzen sie die
öffentlichen Straßen kostenlos und machen Millionen.“
## Geizig mit Informationen
Eines seiner größten Probleme ist aber ein anderes: „Die Deutschen sind
nicht sehr freigiebig mit Informationen“, findet er. Es scheine ein
kulturelles Phänomen zu sein, dass man nicht die Antwort bekommt, die man
sucht, solange man nicht die exakte Frage stellt. „Viele von uns wissen
nicht einmal von Hilfen, auf die sie Anspruch hätten, weil sie dummerweise
nicht der richtigen Person die richtige Frage gestellt haben.“ Bei Behörden
müsse man im Grunde einfordern, was man vorher selbst schon herausgefunden
habe.
Yashs Plan war eigentlich, zwei Jahre in Berlin zu studieren und hier
Berufserfahrung zu sammeln. Inzwischen ist er nicht mehr sicher, ob
Deutschland das Richtige für ihn ist. Woran das genau liegt, kann er nicht
sagen, vielleicht sei es die Kultur, vielleicht die Sprachbarriere: „Wobei
ich mir keine Mühe gegeben habe, Deutsch zu lernen“, räumt er ein. Warum
das so ist? „Weil ich immer im Hinterkopf habe zurückzugehen.“ Und
englischsprachige Länder eben eine Alternative seien.
Ich will zum Büro des Lieferando-Betriebsrats am Ostkreuz, aber dort finde
ich keinen Hinweis – ich muss mich in der Adresse geirrt haben. Kurz darauf
lotst mich eine SMS in ein Gebäude. Als ich nach der fehlenden
Beschilderung frage, sagt man mir, das sei Teil der
Gewerkschaftsfeindlichkeit: Das Unternehmen wolle nicht, dass der
Betriebsrat für die Rider einfach zu finden ist. Bis vor Kurzem hatte das
Büro nicht mal einen Briefkasten.
Ich suche nach Informationen zu den Fragen, die mir im Kopf herumschwirren:
Warum kommen die allermeisten Fahrer, die ich sehe, aus Südasien – Indien,
Pakistan und Bangladesch? Ein Ergebnis: Die Fahrrad-Rider machen nur 40
Prozent der Kuriere aus, der Rest beliefert die Kunden mit dem Auto – und
diese Fahrer kommen meist aus arabischen Ländern. Viel mehr Zahlen finde
ich nicht, schon gar nicht über Wolt, Flink oder UberEats, die auch mit
Subunternehmen arbeiten. Die gesamte Branche scheint mir eine Blackbox zu
sein.
Ich treffe Reddington* in Adlershof, früher ist er für Gorillas und Getir
gefahren und war an den wilden Rider-Streiks 2021 beteiligt. Heute arbeitet
er in einem Späti am Alex, dieses Jahr will er sein Studium abschließen.
Reddington kam mit einem Arbeitsvisum nach Deutschland – für das Projekt
eines indisches Unternehmens, das dann im Sande verlaufen ist. Er
beschloss, sich weiterzubilden und nebenbei als Rider zu arbeiten – Freunde
an der Uni hatten ihm dazu geraten.
Anfangs gefiel es ihm bei Gorillas, sagt er. Er lernte interessante Leute
kennen, darunter promovierte Wissenschaftler und Profiköche, die wegen
Corona ihre Jobs verloren hatten. Damals habe der Lebensmittel-Lieferdienst
noch Probleme mit den Bestellmengen gehabt, erzählt er. Oft seien Sachen
übrig geblieben, die die Rider mit nach Hause nehmen durften. Vier oder
fünf Monate sei er ohne eigene Einkäufe ausgekommen.
## Tränen im Warenlager
Dann habe das Unternehmen die Prozesse optimiert und die Zahl der
Beschäftigten reduziert. Fahrer seien belogen, Löhne verspätet gezahlt
worden. Reddington erinnert sich, wie ein Kollege im Warenlager in Tränen
ausbrach – seine Eltern waren zu Besuch, und er konnte nicht einmal das
Essen in einem Restaurant bezahlen. Der Vorgesetzte habe ihm den Lohn drei
Wochen vorenthalten und ihn immer wieder vertröstet.
Verspätete Lohnzahlungen können auch gefährlich werden, etwa wenn man mit
der Miete in Rückstand gerät. Der Missbrauch erreichte einen Punkt, an dem
Reddington und andere beschlossen zu streiken. Es kam zu Massenentlassungen
bei Gorillas, sie gingen zum türkischen Konkurrenten Getir und arbeiteten
dort weiter.
Reddington hatte schon früher in Oman Arbeitsrechtsverletzungen erlebt.
Damals musste er alles hinwerfen und nach Indien zurückkehren. „Der
Mittlere Osten ist nicht wirklich ein Ort, wo man als Arbeiter für seine
Rechte eintreten kann“, sagt er. „Ich dachte, Deutschland sei da anders.
Aber da bin ich mir nicht mehr so sicher.“
Wer Geld habe, könne ein Gerichtsverfahren bis zum Ende durchfechten. Wer
keines habe, werde von der Justiz hingehalten und müsse sich auf einen
Vergleich einlassen. „Selbst wenn man gewinnt, gewinnt man nicht wirklich.“
Früher seien die Kolonialisten mit dem Schiff nach Indien gekommen – „heute
bezahlen wir unsere eigenen Flugtickets, um uns hier zu Sklaven zu machen“.
Aber warum tun es dann so viele? Reddington sagt, ein Teilzeit-Rider
verdiene in Deutschland so viel wie ein Ingenieur mit einem Vollzeitjob in
Indien. Viele liehen sich Geld von Verwandten oder Kredithaien, um die
Studiengebühren oder das Sperrkonto zu bezahlen, das man für die
Beantragung des Visums braucht. Manche verpfändeten Familienbesitz. Um die
Kredite abzuzahlen, müssten sie hier von Tag eins an einer Beschäftigung
nachgehen.
Viele hätten die Illusion, dass das nicht schiefgehen kann, sagt
Reddington, „aber wenn es schiefgeht, kann es sehr schiefgehen“. Manche
hätten Angst, einen Arbeitsunfall zu melden, vor allem in der Probezeit.
Weil sie ihre Rechte nicht kennen und die Sprache nicht gut beherrschten,
trauten sie sich nicht, eine sichere Ausrüstung einzufordern. „Trotzdem
kommen sie mit dem Traum von einem besseren Leben.“ Mittlerweile hat sich
auch Getir aus dem deutschen Markt zurückgezogen und die rund 1.800
Mitarbeiter entlassen.
Rahul konzentriert sich mittlerweile auf seinen Deutschunterricht, jeden
Tag von 8 bis 11 Uhr. Zwischendurch hat er in einem Amazon-Lager
gearbeitet, ein paar andere Minijobs gemacht, aktuell lebt er vom
Ersparten. Und er wartet auf das Geld aus seiner Kündigungsschutzklage
gegen Lieferando. Zurzeit hat er ein Freisemester eingelegt, abbrechen will
er sein Studium nicht – auch wenn die Gebühr an der privaten Hochschule
rund 10.000 Euro im Jahr beträgt.
Ich frage ihn, wie er es schafft, sich auf sich selbst zu konzentrieren, so
weit weg von seiner Familie. Er sage sich immer, dass er schon weit
gekommen sei, antwortet er. Man müsse nur seine Prioritäten richtig setzen.
Dann sendet er mir ein Foto vom Brandenburger Tor im Sonnenuntergang:
Manchmal habe er jetzt sogar Zeit für ein bisschen Sightseeing.
* Name geändert
25 Sep 2024
## AUTOREN
Roanna Rahman
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