| # taz.de -- Landtagswahlen in Ostdeutschland: Transatlantische Inspiration | |
| > Deutschlands Progressive könnten sich von Harris abgucken, wie man den | |
| > Populisten Paroli bietet. Es braucht ein mehrheitsfähiges Politikangebot. | |
| Bild: Reform der Schuldenbremse für die Infrastruktur? Fänden sicher viele W�… | |
| Die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen waren ein Debakel für die | |
| progressiven Parteien und auch in Brandenburg droht die AfD zur stärksten | |
| Kraft zu werden. Anstatt sich jetzt von Union, AfD und BSW in den Themen | |
| von Asyl- und Migrationspolitik weiter vor sich hertreiben zu lassen, | |
| sollten die progressiven politischen Kräfte in Deutschland politische | |
| Akzente für ein mehrheitsfähiges Politikangebot setzen. | |
| Bis zur Bundestagswahl 2025 bleibt Zeit, eine eigene Agenda und Strategie | |
| zu entwickeln, was derzeit in den Berliner Parteizentralen mit der | |
| Ausarbeitung der Wahlprogramme vorangetrieben wird. Das bedeutet auch, der | |
| Erzählung der AfD und des BSW vom Niedergang der Ampel alltägliche | |
| Gerechtigkeits- und Verteilungsfragen entgegenzusetzen. Der Unsicherheit | |
| vieler, vor allem junger Menschen mit glaubwürdigen und pragmatischen | |
| Lösungen zu begegnen, anstatt sich an den Rechtsextremen abzuarbeiten. | |
| [1][Eine repräsentative Umfrage] des Meinungsforschungsinstituts Ipsos, die | |
| im Frühjahr im Auftrag der Nichtregierungsorganisation „Das Progressive | |
| Zentrum“ in Deutschland und den USA vorgenommen wurde, bietet Aufschlüsse | |
| darüber, wie ein solches Politikangebot aussehen könnte. Nach den größten | |
| Sorgen gefragt, stehen in Deutschland Lebenshaltungskosten und die | |
| Wirtschaft deutlich vor den Themen Migration und Klimawandel. | |
| Auch in den USA treiben Lebenshaltungskosten und wirtschaftliche Sorgen die | |
| Mehrheit der Befragten und insbesondere Trump- sowie Nichtwähler:innen | |
| um. Das Thematisieren der alltäglichen, materiellen Sicherheit bietet also | |
| gerade Progressiven die Chance, Menschen außerhalb ihrer Basis zu | |
| erreichen. Das Wahlkampagnenteam der demokratischen | |
| US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris und ihres [2][Mitbewerbers Tim | |
| Walz] scheint genau darauf zu setzen. | |
| [3][In ihrem ersten TV-Interview] sprach Harris von einer | |
| „Chancengesellschaft“, der sie sich ab dem ersten Tag ihrer Präsidentschaft | |
| widmen wolle. Sie wendet sich damit vor allem an die Mittelschicht, der sie | |
| ein Mehr an „wirtschaftlicher Sicherheit, Stabilität und Würde“ bringen | |
| will. Zudem sollen die Kosten für Güter des täglichen Bedarfs gesenkt | |
| werden, unter anderem durch ein bundesweites Verbot von Preisabzocke durch | |
| Konzerne bei Lebensmitteln. | |
| ## Materielle Sicherheit und Gerechtigkeit | |
| Auch eine Erhöhung der Unternehmenssteuer bei gleichzeitigen | |
| Steuererleichterungen für Arbeiter:innen- und Mittelklassefamilien steht | |
| auf ihrer Agenda. Harris gelingt es, nicht nur die alltäglichen Probleme | |
| ernstzunehmen und konkrete Lösungen vorzuschlagen, sondern sie verbindet | |
| materielle Sicherheit mit dem Gefühl von Gerechtigkeit und einer positiven | |
| Zukunftserzählung. | |
| Auch wenn ihre Vorhaben in dieser Phase des Wahlkampfs teils vage bleiben | |
| und aktuell kaum jemand sagen kann, ob und wie die Ideen durch den Kongress | |
| kommen könnten, liegt Harris in den [4][Umfragen der vergangenen Wochen] | |
| schon knapp vor Trump. Die Kombination aus affektiver und rationaler | |
| Politik, also einerseits das Bedienen von Gefühlen und andererseits das | |
| Vorbringen neuer, greifbarer Gesetzesvorhaben, wie auch die Nominierung des | |
| Vizepräsidentschaftskandidaten Tim Walz als Identifikationsfigur der | |
| Mittelklasse scheint für das Team Harris gut zu funktionieren. | |
| Für Deutschland heißt das: Es lohnt sich, mutig eigene Akzente zu setzen | |
| und ein klares Gegenangebot zum konservativ-rechten Diskurs zu formulieren. | |
| Progressive sollten mit Nachdruck darüber nachdenken, wie so etwas wie eine | |
| „Chancengesellschaft“ aussehen könnte, wie materielle Sicherheit und | |
| Gerechtigkeit in einer überzeugenden Zukunftserzählung aufgehen könnten. | |
| Eine solche braucht aber, wie auch bei den US-Demokrat:innen, handfeste | |
| Finanzierungs- und Umsetzungspläne. | |
| Ein Ansatzpunkt kann die öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge | |
| sein. Neu ist diese Forderung nicht und Geld allein löst keinen | |
| Personalmangel, aber eine „Zeitenwende“ für die öffentliche Infrastruktur | |
| und Daseinsvorsorge wäre eine spürbare Prioritätenverschiebung. Massive | |
| Investitionen in diese Bereiche sind auch eine Antwort auf die | |
| Strukturkrise der Wirtschaft und sie würden die Menschen spürbar in ihrem | |
| Alltag entlasten. | |
| ## Abstriche bei der Schuldenbremse | |
| Gerade dort, wo sie infolge jahrelanger [5][strenger Sparpolitik] | |
| vernachlässigt wurden, schwindet das Vertrauen in die Demokratie. Da | |
| profitieren rechtsextreme Kräfte und Niedergangserzählungen florieren. Es | |
| braucht eine Reform der Schuldenbremse. Dem würden laut Umfrage 77 der | |
| Menschen in Deutschland zustimmen, wenn dadurch Investitionen in die | |
| Infrastruktur, das Bildungswesen und die Gesundheitsversorgung fließen. | |
| Zudem sollte auch auf der Einnahmenseite vor Reformen nicht | |
| zurückgeschreckt werden. | |
| Wie für Harris in den USA besteht in Deutschland das Potenzial, durch | |
| [6][Steuererhöhungen für Unternehmen] und Spitzenverdiener:innen dem | |
| Gerechtigkeitsversprechen nicht zuletzt für die Mitte Glaubwürdigkeit zu | |
| verleihen. In Deutschland könnte das konkret durch die Wiedereinführung der | |
| [7][Vermögenssteuer], die Erhöhung des Spitzensteuersatzes und die | |
| Einführung einer Übergewinnsteuer bei einer Ausweitung des ermäßigten | |
| Steuersatzes auf weitere Grundnahrungsmittel geschehen. | |
| Bei alldem sollten Progressive [8][in Sachen Klimaschutz jetzt nicht klein | |
| beigeben]. 52 Prozent der Befragten in Deutschland sind der Ansicht, dass | |
| ehrgeizigere Maßnahmen zum Klimaschutz der Regierung mehr Vorteile als | |
| Risiken bringen könnten, etwa im Hinblick auf den Arbeitsmarkt oder die | |
| Exportwirtschaft. Progressive müssen den grünen Umbau bestehender | |
| Industrien weiter vorantreiben und Planungssicherheit schaffen. | |
| Es gilt, diese knappen Mehrheiten auszubauen und all die diejenigen, die | |
| sich Veränderung wünschen und auf sie angewiesen sind, nicht im Stich zu | |
| lassen. | |
| 11 Sep 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.progressives-zentrum.org/wp-content/uploads/2024/08/240827_Surv… | |
| [2] /US-Wahlkampf/!6028706 | |
| [3] /US-Praesidentschaftswahl/!6033411 | |
| [4] https://projects.fivethirtyeight.com/polls/president-general/2024/national/ | |
| [5] https://www.econstor.eu/bitstream/10419/272875/1/1827171049.pdf | |
| [6] /Reichensteuer-und-Krankenversicherung/!6021907 | |
| [7] /Ausgesetzte-Vermoegenssteuer/!6021305 | |
| [8] /Umfrage-in-Deutschland-und-USA/!6033308 | |
| ## AUTOREN | |
| Sandra Rath | |
| Axel Ruppert | |
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