# taz.de -- Neues Hochschulgesetz in Berlin: Ordnungsrecht statt Opferschutz | |
> Nach dem Angriff auf einen jüdischen Studenten in Berlin können | |
> Studierende leichter exmatrikuliert werden. Ob das den Opfern hilft, ist | |
> fraglich. | |
Bild: Die sogenannte Rostlaube der Freien Universität Berlin | |
Der Angriff löst bundesweit Entsetzen aus und führt zu einer hitzigen | |
Debatte darüber, ob straffällige Studierende künftig zwangsexmatrikuliert | |
werden sollen: Im Februar wird [1][der jüdische FU-Student Lahav Shapira | |
aus Israel] von einem propalästinensischen Kommilitonen zusammengeschlagen, | |
er wird mit Knochenbrüchen im Gesicht und anderen schweren Verletzungen ins | |
Krankenhaus eingeliefert. | |
Die Berliner Staatsanwaltschaft stuft die Tat als antisemitisch ein und | |
sieht einen Zusammenhang mit dem Konflikt zwischen Israel und Gaza, der | |
auch an der Freien Universität zu Protesten und Besetzungen geführt hat. | |
Shapira geht inzwischen wieder zur Uni. Und er macht der Freien Universität | |
schwere Vorwürfe. Die politische Debatte über die richtigen Folgen dauert | |
Wochen. Und die Freie Universität Berlin steht unter massivem Druck, etwas | |
zum Schutz ihrer Studierenden zu tun. | |
Im Juli beschließt der Berliner Senat, dass Studierende künftig nach | |
Straftaten an Berliner Hochschulen zwangsexmatrikuliert werden können. | |
Ordnungsrecht heißt das beschlossene Gesetz, dabei handelt es sich um | |
„einen differenzierteren Maßnahmenkatalog und ein geregeltes Verfahren | |
gegen Studierende, die einen Ordnungsverstoß begangen haben, der auch den | |
Opferschutz stärkt“, erklärt die Präsidentin der Berliner | |
Humboldt-Universität, Julia von Blumenthal, der taz. Die Exmatrikulation | |
sei dabei nur die letzte und schärfste Maßnahme. | |
## Ein Vorschlag der AfD | |
Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra (SPD) [2][begrüßte das neue Gesetz] als | |
„umfangreichen Instrumentenkasten, um den Opferschutz zu stärken“. | |
Interessant bei der Debatte ist, von wem die Idee überhaupt kam, das | |
Ordnungsrecht wieder einzuführen: Der Vorschlag geht auf einen Antrag zur | |
Gesetzesänderung der AfD vom 13. Februar zurück. | |
Doch kann es tatsächlich den Opferschutz stärken? In einem offenen Brief | |
der Berliner Studierendenschaft gegen die Wiedereinführung des | |
Ordnungsrechts kritisierten sie: „Dieses Gesetz bietet keinen Schutz, birgt | |
die reelle Gefahr einer weiteren autoritären Diskursverschiebung und | |
kriminalisiert studentischen Protest und studentische Teilhabe.“ Die Kritik | |
kommt nicht von ungefähr, denn die Vergangenheit zeigt durchaus eine | |
repressive Anwendung des Gesetzes bei politischer Teilhabe. | |
Die Zwangsexmatrikulation als Ordnungsmaßnahme ist ein Relikt des | |
sogenannten Disziplinarrechts, das bereits im Mittelalter bestand. Damals | |
gab es an Universitäten noch die sogenannte akademische Gerichtsbarkeit, | |
ein universitätsinternes Gericht mit eigenen Rechtsanwälten und Aktuaren. | |
Die Strafgewalt wurde durch den Rektor, einen Universitätsrichter und/oder | |
den Senat ausgeübt. | |
Strafen konnten unter anderem Geldstrafen, Haft im Arrestzellen, auch | |
bekannt als Karzer, oder eben die Exmatrikulation sein. „Zwar wurde die | |
akademische Gerichtsbarkeit mit dem Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 | |
abgeschafft, die Disziplinargewalt gegenüber den Studierenden aber | |
beibehalten. So konnten Studierende weiterhin mit Karzerhaft oder dem | |
Verweis von der Universität bestraft werden“, erzählt Historiker Martin | |
Göllnitz im Gespräch mit der taz. | |
## Auch im NS wurden Studierende ausgeschlossen | |
In der Zeit des Nationalsozialismus wurde das Disziplinarrecht gezielt | |
eingesetzt, um Studierende mit unerwünschten politischen Ansichten von den | |
Universitäten zu entfernen, insbesondere kommunistische, marxistische und | |
„antinationale“ Studierende. | |
„1933/34 sind insgesamt 548 Studierende, überwiegend Kommunisten, aus | |
politischen Gründen vom weiteren Hochschulstudium ausgeschlossen worden“, | |
berichtet Michael Grüttner, Historiker und Experte für Wissenschafts- und | |
Universitätspolitik in der Zeit des Nationalsozialismus. Auch in der | |
Weimarer Republik seien Studierende unterschiedlicher Couleur relegiert | |
worden – „aber nicht aufgrund ihrer Gesinnung, sondern aufgrund ihres | |
Verhaltens, oft als Konsequenz politisch motivierter Gewalttaten“, so | |
Grüttner. | |
Erst im Zuge der 1968er-Studierendenproteste änderten sich die Hochschulen | |
grundlegend. Das Disziplinarrecht wurde durch das Ordnungsrecht abgelöst. | |
„Insofern handelt es sich beim Ordnungsrecht um eine liberalisierte Form | |
des Disziplinarrechts“, sagt die Berliner Senatsverwaltung für | |
Wissenschaft, Gesundheit und Pflege auf taz-Anfrage. | |
Während das Disziplinarrecht neben der Aufrechterhaltung der Ordnung des | |
Universitätsbetriebs auch die sitten- und ehrenhafte Haltung der | |
Studierenden zum Inhalt hatte, stehe beim Ordnungsrecht allein die | |
Aufrechterhaltung eines ordnungsgemäßen Hochschulbetriebs im Fokus. Die | |
Funktion sei somit, „einen störungsfreien Hochschulbetrieb dadurch zu | |
gewährleisten, dass es Arten von Störungen normiert und sich daraus | |
ergebende Ordnungsmaßnahmen festsetzt.“ | |
## Wirksamer Opferschutz? | |
Im Zuge einer großen Neuerung des Berliner Hochschulgesetzes wurde das | |
Ordnungsrecht 2021 abgeschafft. Tobias Schulze, wissenschafts- und | |
forschungspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Berliner | |
Abgeordnetenhaus, erklärt gegenüber der taz, dass die rot-grün-rote | |
Koalition damals keinen Nutzen im Ordnungsrecht sah, da es praktisch sehr | |
schlecht anwendbar gewesen sei. Die Berliner Senatsverwaltung für | |
Wissenschaft, Gesundheit und Pflege bestätigt gegenüber der taz: „Es gab in | |
den letzten Jahren keine Anwendungsfälle an Berliner Hochschulen.“ | |
Seit Juli ist das Ordnungsrecht unter der schwarz-roten Regierung in Berlin | |
wieder anwendbar. Und HU-Präsidentin Julia von Blumenthal befürwortet das | |
Gesetz: „Wirksamer Opferschutz kann insbesondere durch den im Gesetz | |
explizit vorgesehenen Ausschluss von der Teilnahme einzelner | |
Lehrveranstaltungen erreicht werden“, sagt sie der taz. | |
Wie wirksam eine Exmatrikulation beim Opferschutz ist, bleibt allerdings | |
fraglich. „Bis es zu einer strafrechtlichen Verurteilung kommt, können | |
Monate bis Jahre vergehen. Opferschutz setzt immer präventiv an“, findet | |
Michael Plöse, Anwalt für Hochschulrecht. Ein repressives Vorgehen, das | |
eher auf Vergeltung und Abschreckung setzt, sei selten ein geeignetes | |
Mittel, um Opfer zu schützen. | |
Insbesondere bei sexualisierter Gewalt, bei der das Opfer nachweisen muss, | |
dass eine solche Verletzung stattgefunden hat, erweist sich das | |
Ordnungsrecht als ungeeignet, das Opfer effektiv zu schützen. „Eine viel | |
effektivere Möglichkeit, die parallel zum Ordnungsrecht besteht und auch | |
noch mal verlängert werden kann, ist das Hausrecht“, erzählt Michael Plöse | |
der taz. Beim Hausrecht „können im Einzelfall Störende zeitnah | |
rechtswirksam des Raumes, Gebäudes oder Grundstücks verwiesen werden.“ | |
## Wie wärs mit Hausverbot? | |
So steht es in der Hausordnung zum Hausrecht der Freien Universität in | |
Berlin. Wenn es darum gehe, dass Opferschutz durch den Ausschluss von | |
Lehrveranstaltungen erreicht werde, wie HU-Präsidentin Blumenthal findet, | |
reicht da nicht das Hausrecht? „Das Ziel ist ja, dass kein Vergewaltigungs- | |
oder Gewaltopfer dem Täter in einem Seminar oder in einer Vorlesung | |
gegenübersitzen sollte. Da dient das Hausrecht als Mittel der Wahl. Das ist | |
sofort anwendbar“, findet der Linken-Politiker Tobias Schulze. Nach dem | |
Angriff auf Shapira erhielt der Täter Hausverbot, inzwischen bis zum 8. | |
August 2026 verlängert. | |
Mit dem neuen Ordnungsrecht befürchten manche Kritiker*innen, dass damit | |
politische Kämpfe an Hochschulen unterbunden wird. Darauf antwortet | |
HU-Präsidentin Blumenthal: „Universitäten sind Orte des offenen und freien | |
Diskurses. Das Ordnungsrecht soll diese wichtigen Diskursräume schützen und | |
nicht beschneiden.“ | |
Doch so wirklich schützen tut das Ordnungsrecht Diskursräume nicht, meint | |
Anwalt Michael Plöse. „Das führt praktisch zu einer Hemmung, auch kritische | |
Meinungsäußerungen zu machen. Schon allein diese abstrakte Möglichkeit und | |
das ganze Verfahren, das damit einhergeht – die Konsultation von | |
Anwält*innen, die natürlich auch Geld kostet – zeigt, dass hier ein | |
zusätzlicher Apparat geschaffen wird, der die Wahrnehmung von | |
Meinungsfreiheit beeinträchtigen wird.“ | |
Auch der Allgemeine Studierendenausschuss, [3][der „Referent*innenRat“ der | |
HU], sieht im Ordnungsrecht keinen Schutz von Diskursräumen: „Das | |
Ordnungsrecht ist eine Kampfansage gegen die Berliner Studierendenschaften, | |
politische Organisation an Universitäten und schlussendlich gegen jegliche | |
Politisierung an Universitäten.“ | |
## Auffälliges Tempo | |
Ob das neue Gesetz politische Aktionen an Universitäten einschränken wird, | |
lässt sich derzeit noch nicht abschließend sagen. Auffällig ist jedoch das | |
schnelle Tempo, mit dem das Ordnungsrecht nach dem Angriff im Februar gegen | |
Shapira verabschiedet wurde – bereits im Juli trat es in Kraft. | |
Diese Eile sorgte auch für Kritik, etwa von TU-Präsidentin Geraldine Rauch, | |
die bereits im März [4][gegenüber der taz warnte]: „Es gibt keinen Grund, | |
das so überstürzt durchzusetzen.“ Es stellt sich deshalb die Frage, ob es | |
sich bei diesem Gesetz nicht eher um Symbolpolitik handelt, die als | |
Reaktion auf den öffentlichen Druck nach dem Angriff auf Lahav Shapira | |
umgesetzt wurde. | |
3 Sep 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Angriff-auf-juedischen-Studenten/!5990092 | |
[2] https://www.berlin.de/sen/wgp/presse/2024/pressemitteilung.1463237.php | |
[3] https://www.refrat.de/article/PMOrdnungrecht.html | |
[4] /Verschaerfung-des-Hochschulgesetz/!5994788 | |
## AUTOREN | |
Mengna Tan | |
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