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# taz.de -- Schulstart in Berlin: Heute Glück gehabt
> Wenn Berlins Schüler*innen aus den Ferien zurückkommen, werden einige
> von ihnen in „Glück“ unterrichtet. Dabei geht es
> Persönlichkeitsentwicklung.
Bild: In anderen Städten steht Glück schon länger auf dem Lehrplan, wie hier…
Berlin taz | Ihre Lieblingsübung sei der „Jahrmarkt der schlechten
Eigenschaften“, sagt Ellen Scheiter: Jede*r schreibt eine Eigenschaft, die
er*sie an sich nicht mag, auf einen Zettel und legt ihn in einen Korb.
Dann wird ein Zettel gezogen, und die Aufgabe ist es, die Eigenschaft
meistbietend zu versteigern. Die anderen Schüler*innen ringen darum, die
Eigenschaft zu bekommen. Was den Kindern vermittelt werden soll: „Jede
ungemochte Eigenschaft hat eine gute Seite“, erklärt Scheiter.
Scheiter leitet die Bildungsorganisation Sethasa, die in Kooperation mit
dem Heidelberger Fritz-Schubert Institut für Persönlichkeitsentwicklung
seit 2013 bundesweit das Pilotprojekt „Schulfach Glück“ durchführt, seit
2017 auch in Berlin. Kritiker*innen sehen darin die endgültige
Verweichlichung der jüngeren Generationen. Doch es geht nicht um Yoga und
Blümchenpflücken. „Es geht um Glück im Sinne von psychologischem
Wohlbefinden“, sagt Scheiter. Die Bezeichnung des Fachs als „Glück“ gef�…
ihr nicht besonders. In Bayern laufe der Unterricht unter „Persönliche
Entwicklung“.
Ziel des Fachs ist es, die Persönlichkeit zu stärken. „Kinder und
Jugendliche lernen, Gefühle zu artikulieren, Glaubenssätzen auf den Grund
zu gehen, sich mit ihren Stärken und Schwächen auseinanderzusetzen“,
erklärt Scheiter. Der vom Systemtherapeuten Ernst Fritz-Schubert
konzipierte Unterricht basiert auf erlebnis-, sport- und
theaterpädagogischen Übungen inklusive „Coaching-Anteilen“. „Im Anschlu…
an die Übungen wird gemeinsam reflektiert, was die Schüler*innen gespürt
haben, und ihre Erfahrungen werden in einen inhaltlichen Kontext verortet.“
Sind es diese Fähigkeiten, [1][die angesichts der bislang schlechtesten
Ergebnisse der Pisa-Studie Ende 2023] – vor allem in Mathe und Lesen –
gestärkt werden müssen? Ja, glaubt Scheiter, denn sie wirkten unterstützend
für andere Fächer. [2][Immer mehr Schüler*innen seien „komplett durch
den Wind“, hätten psychische Probleme] und seien in einem Zustand, in dem
man ihnen inhaltlich nichts mehr vermitteln könne. „Den Kindern fehlt
Halt“, sagt Scheiter. Es brauche Persönlichkeitsentwicklung, um mit ihnen
in Beziehung treten zu können.
## Inhalt durch Beziehung
Das auf ein Schuljahr ausgelegte Glücksfach unterstützt sie dabei. Das
ergab eine Auswertung durch das Fritz-Schubert-Institut und die Uni
Osnabrück: Nach einem Jahr schätzten die Schüler*innen die
Schulgemeinschaft wertvoller ein und sahen häufiger einen Lebenssinn. Sie
konnten ihre Ziele besser formulieren und gingen mit einer gesteigerten
Lernmotivation und Zielorientierung aus dem Unterricht hervor.
Inzwischen gibt es das Fach bundesweit an über 500 Schulen. Anbieter sind
verschiedene Bildungsträger, darunter Sethasa, das den Glücksunterricht in
Berlin an 27 Schulen anbietet. Das Fach ist jedoch kein Bestandteil des
Kanons der Kultusministerien. „Daher läuft es oft im Rahmen der Fächer
Ethik, praktische Philosophie oder Lebenskunde“, sagt Scheiter. In manchen
Schulen wird es als Wahlpflichtfach oder AG angeboten und daher auch nicht
benotet. Im Rahmen anderer Fächer jedoch schon. Scheiter gefällt das nicht:
„Was will man bewerten, wenn man sich mit Persönlichkeit beschäftigt?“
Sethasa bildet auch Lehrer*innen aus. „Viele kommen zu uns, weil sie mit
dem bisherigen Handwerk, das sie als Lehrkräfte erworben haben, nicht
weiterkommen“, so Scheiter. Sie lernen unter anderem, wie man eine
Beziehung zu den Schüler*innen aufbaut. Das sei essenziell, glaubt
Scheiter, denn „durch Beziehungen werden Inhalte vermittelt“. Die
Ausbildung ist für die Lehrkräfte der Partnerschulen kostenlos, die 3.200
Euro, die der Glücksunterricht pro Klasse jährlich kostet, werden von den
Schulen übernommen. Finanziert wird es aus Ländertöpfen.
Von Zehlendorf über Neukölln bis Pankow bietet Sethasa das Fach in
Grundschulen, integrierten Sekundarschulen, Berufsausbildungszentren und
Gemeinschaftsschulen an – jedoch nur an einem Gymnasium. „Unter den
Projektschulen sind viele mit einem hohen Anteil an sozial benachteiligten
Schüler*innen“, sagt Scheiter. Denn hier seien die Herausforderungen und
damit auch der Bedarf am größten.
## Glück auf dem Vormarsch
Um für mehr Chancengerechtigkeit an Schulen zu sorgen, gibt es seit dem 1.
August [3][das „Startchancen-Programm“. Von den insgesamt 20 Milliarden
Euro,] die für die nächsten zehn Jahre bereitstehen, sollen bundesweit
4.000 Schulen profitieren. Auf Berlin entfallen 460 Millionen Euro. Das
Programm soll in diesem Schuljahr zunächst an 59 Schulen starten und
anschließend auf rund 150 bis 160 Schulen ausgeweitet werden, darunter fast
100 Grundschulen. Auch hier steht die Persönlichkeitsentwicklung im
Zentrum. Neben der Stärkung der Kernkompetenzen Mathe und Deutsch sowie der
Ausstattung von Schulen ist sie eine von drei Säulen, die für mehr
Bildungsgerechtigkeit sorgen soll.
Doch es gibt auch Kritik an dem Unterricht zur Persönlichkeitsentwicklung:
„In Deutschland ist es gängig, dass Fächer wissenschaftlich rückgebunden
und einer Fachdisziplin zugeordnet sind“, sagt Bildungsforscherin Simone
Hiller der taz. „Obwohl es wissenschaftlich fundiert ist, ist das beim
Glücksfach nicht gegeben.“ Zudem seien die Lehrkräfte nicht ausgebildet für
die psychischen Herausforderungen der Kinder, mit denen sie konfrontiert
würden – wie Essstörungen, Gewalt- oder Diskriminierungserfahrungen. „Man
muss als Lehrperson auch auf Fachpersonen verweisen, die das behandeln
können.“
Das Schulfach Glück sei zu individualistisch gedacht, findet Hiller.
„Natürlich brauchen wir Persönlichkeitsentwicklung in der Schule, aber die
haben wir bereits.“ Ein Schulfach, das sich nur um Persönlichkeit kümmert,
impliziere, dass andere Fächer nicht persönlichkeitsstärkend seien. „Das
ist ein Misstrauensvotum gegen alle Lehrpersonen und Fächer.“
Beim Fritz-Schubert-Institut sieht man das anders: Wenn bei
Schüler*innenbefragungen die „Schule schlimmer als der Gang zum
Zahnarzt“ empfunden wird, sei es höchste Zeit, den Status quo des
Schulalltags zu hinterfragen.
2 Sep 2024
## LINKS
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[3] /Startchancen-Programm-gegen-Ungleichheit/!6033044
## AUTOREN
Lilly Schröder
## TAGS
Schulstart
Lehrermangel
Pisa-Studie
Bildungssystem
psychische Gesundheit
Schwerpunkt Stadtland
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