# taz.de -- Die Wahrheit: Das muss kasseln! | |
> Gendern at it’s best: Wenn geschlechtergerechte Wortkaskaden in der | |
> nordhessischen Metropole Kassel die Zungen der Sprecher verknoten lassen. | |
Wer über die Bevölkerung Kassels spricht, steht, was das Gendern betrifft, | |
vor besonderen Problemen. Vor allem, wenn man selbst von dort kommt und auf | |
die örtlichen Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen möchte. | |
In Hannover, wo ich jetzt wohne, ist Gendern Pillepalle. Je nachdem, wie | |
inklusiv man sein möchte, spricht oder schreibt man von | |
Hannoveraner*innen oder nutzt die binäre Doppelbezeichnung: | |
Hannoveraner und Hannoveranerinnen. Schnell gemacht und keines | |
wutbürgerlichen Aufschreis wert. | |
In Kassel aber liegen die Dinge anders. Dort neigt man seit jeher zu | |
kleinteiligen Differenzierungen. Zum Beispiel wenn das Verhältnis der | |
Bewohner zu ihrer Stadt definiert wird. Man unterscheidet dort zwischen | |
Kasselern, also Menschen, die irgendwann zugezogen sind, Kasselanern, die | |
dort geboren wurden, und Kasselänern, deren Eltern schon in Kassel auf die | |
Welt kamen. So beginnt die Rede einer Politikfachkraft im Nordhessischen | |
durchaus mal mit: „Liebe Kasseläner, Kasselaner und Kasseler“. | |
Nach den zurzeit gängigsten Gender-Regeln müsste man nun aber dreimal | |
hintereinander das Sternchen sprechen. Beziehungsweise nicht sprechen, denn | |
das Sonderzeichen wird ja akustisch durch den „glottal stop“, einen mit den | |
Stimmlippen gebildeten, aber trotzdem stimmlosen Verschlusslaut | |
repräsentiert. Einmal im Satz ist das kein großes Ding, man benutzt den | |
Glottisschlag im Deutschen ja auch in Wörtern wie „Theater“ oder | |
„beachten“. Aber dreimal hintereinander kann sich das anhören, als habe | |
jemand schwere Schluckbeschwerden. | |
Will die Politfachkraft das vermeiden und verwendet stattdessen die | |
männlichen und weiblichen Formen, obwohl dann Menschen, die zwischen diesen | |
Polen stehen, ignoriert werden, ist die Hälfte des Publikums schon gegangen | |
oder betrunken, bevor die Begrüßung beendet ist: „Lieber Kasseläner und | |
Kasselänerinnen, liebe Kasselaner und Kasselanerinnen, liebe Kasseler und | |
Kasselerinnen …“ | |
Ich will hier keineswegs der konservativen „Gender-Gaga“-Paranoia das Wort | |
reden, aber ideal ist das trotzdem nicht. Auch geschrieben zum Beispiel in | |
einem kulturwissenschaftlichen Aufsatz über die Sitten und Gebräuche der | |
urbanen Nordhessen wären diese den Text durchziehenden Wortkarawanen dem | |
Leseverständnis eher abträglich. | |
Was also tun? Nicht gendern wäre feige. Die einzige Lösung ist für mich ein | |
substantiviertes Partizip, wie es auch bei „die Studierenden“ benutzt wird: | |
„die Kasselenden“. Dazu müsste man zwar erst das Verb „kasseln“ für �… | |
Kassel leben“ einführen. Aber das macht meinen Vorschlag für mich um so | |
reizvoller. Wenn ich über meine Vergangenheit spräche, könnte ich dann | |
sagen: „Ich habe früher jahrelang gekasselt.“ Und dann würde ich anfügen: | |
„Aber frag bitte nicht nach Sonnenschein.“ | |
28 Aug 2024 | |
## AUTOREN | |
Hartmut El Kurdi | |
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