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# taz.de -- Russland-Bild in Ostdeutschland: Der verordnete Freund
> Auf der Suche nach Antworten, warum russlandfreundliche Parteien in
> Sachsen so beliebt sind. Ein Essay von einem Nachwuchsjournalisten aus
> Dresden.
Bild: Sowjetischer Soldat mit Frau in der Einkaufsstraße von Potsdam, 1990
Nur ein kniehohes Schild am Dresdner Albertplatz verrät heute, was hier
einst stand: das erste sowjetische Ehrenmal in Deutschland. Im November
1945 war es auf den Trümmern des Brunnens Stürmische Wogen eingeweiht
worden. Kurz nach der Wende musste das Ehrenmal umziehen, es steht heute
weit außerhalb. So wie das Dresdner Mahnmal renoviert wird, erlebt auch die
deutsch-sowjetische Freundschaft eine seltsame Renaissance: das große
ostdeutsche Verständnis für Russland, das fleißig an der Wiederherstellung
seines untergegangenen Sowjetimperiums arbeitet.
Am besten fängt man mit den Begriffen an. Unzutreffend wurden Sowjets in
der DDR als „die Russen“ bezeichnet, dabei könnte es sich auch um einen
Letten, Ukrainer oder Kasachen gehandelt haben. Und keinesfalls ist es
offensichtlich, dass die ehemals Besetzten große Sympathie für Russland
hegten. Die Beziehung der Ostdeutschen zu den Besatzern war weit weniger
herzlich, als im Neuen Deutschland, von 1946 bis 1989 Zentralorgan der
Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), zu lesen war.
Neben staatlich verordneten Veranstaltungen, Briefwechseln und
Ehrenbekundungen herrschte eher kühle Koexistenz als gelebte
Völkerfreundschaft. Beiden Seiten sei es auch ein Anliegen gewesen, „sich
voneinander abzugrenzen“, schreibt die Hallenser Professorin für Neuere
Geschichte, Silke Satjukow, in ihrem Buch „Besatzer“. Die oft
widersprüchlichen Erfahrungen, die Ostdeutsche mit den Besatzern machten,
schufen im Osten ein komplexeres Bild der „Russen“. Im Jahr der
Wiedervereinigung gaben 6 Prozent der Ostdeutschen in einer Studie an, sie
fühlten sich von Sowjettruppen oder deren Familien „gestört“.
## Der Umbruch als gemeinsame Erfahrung
Auch nach der Wende verband Ostdeutschland und Russland eine gemeinsame
Erfahrung: der radikale Umbruch. „Die geteilte, zuweilen demütigende
Umbruchserfahrung trägt bis heute zu einem größeren Verständnis für
Russland bei“, sagt Torsten Ruban-Zeh, SPD-Bürgermeister von Hoyerswerda,
im Gespräch mit der taz. Umbruch hieß für Ostdeutsche ein Trauma:
Goldgräber-Wessi, Treuhand-Sense und Beitritt statt Vereinigung. In
Russland bedeutete Umbruch organisierte Kriminalität, Gesetzlosigkeit und
eine tief empfundene Demütigung auf der Weltbühne.
Laut Satjukow setzte Ende der 90er Jahre ein Bewusstsein bei vielen
Ostdeutschen ein, dass das Russische und die Russen Teil der eigenen
Vergangenheit sind: „Nicht als uneingeschränkt positiver Part, aber dennoch
als ein nicht wegzudenkender Teil ihrer eigenen Geschichte.“ Die
Historikerin hat dafür ein schlagendes Beispiel: Konnten Ostdeutsche kaum
Russisch sprechen, machten in den 2000ern dennoch plötzlich Blätter die
Runde, auf denen sie sich in kyrillischen Buchstaben über Wessis lustig
machten.
Das Faible der Ostdeutschen für Russland zeigte sich zuletzt bei den
Europawahlen im Juni. In Sachsen ging knapp die Hälfte der Stimmen an
Parteien, zu deren Profil ein russlandfreundlicher Kurs gehört. Das Bündnis
Sahra Wagenknecht (BSW) kam auf 12 Prozent, die AfD wurde mit rund 32
Prozent Wahlsieger. Bundesweit dagegen kam das BSW nur auf 6,2 und die AfD
auf 16 Prozent. Die in Teilen rechtsextremistische AfD übt sich im Spagat.
So stieß Spitzenmann Tino Chrupalla am 9. Mai 2023 in der russischen
Botschaft auf den Tag des Sieges an.
Seine Co-Vorsitzende Alice Weidel erklärte hingegen, sie könne die
Niederlage ihres eigenen Landes nicht feiern und sei deshalb ferngeblieben.
Nicht etwa der russische Angriff auf die Ukraine leitet Weidels politisches
Gespür, sondern die Trauer um den eigenen, verlorenen Angriffskrieg. Was
BSW und AfD eint, ist ihr Umgang mit der Ukraine: Sie verhöhnten das
überfallene Land, indem sie im vergangenen Juni im Bundestag die Rede von
Präsident Wolodymyr Selenskyj boykottierten.
## Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber der Politik
Jenseits von Wahlen liebäugeln viele Sachsen mit Vorstellungen von Staat
und Gesellschaft, die in Russland stabil geblieben sind. Einen starken
Staat mit einem entschieden handelnden Mann an der Spitze, der auch mal
hart durchgreift, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Laut dem Sachsen
Monitor 2023 würden drei Viertel der Sachsen gegen „Außenseiter und
Unruhestifter“ härter durchgreifen. Ähnlich hoch ist die Zustimmung zu der
Aussage, als Einzelner sowieso keinen Einfluss auf die Regierung zu haben –
eine in Russland weitverbreitete Einstellung. „Die Politik wird von denen
da oben geregelt, wir können eh nichts daran ändern, also leben wir
unauffällig unser kleines Leben“, hört man oft am Küchentisch. 34 Prozent
der Befragten gaben im vergangenen Jahr an, sich Osteuropa näher zu fühlen
als Westdeutschland.
Viele Ostdeutsche meinen, Russland besser zu verstehen als „die arroganten“
Westler. Immerhin habe man Jahrzehnte Seite an Seite gelebt. Auf den
russischen Zungenbrecher „Dostoprimetschatel’nost“ (Sehenswürdigkeit)
sind sie sogar stolz. Vor allem für überzeugte Anhänger der AfD trifft ein
wesentliches Element des russischen Politikverständnisses zu: Es gibt weder
Fakten noch Moral. Statt Fakten gibt es nur Perspektiven, Sichtweisen und
Interpretationen. Greifbar wird dieses Durcheinander am Begriff
Kriegstreiber, der nicht etwa dem russischen Diktator, der den Krieg begann
und mit großer Härte führt, sondern den Unterstützern des Opfers
zugeschrieben wird. Jeder Versuch, ein ethisches Argument zu formulieren,
geht im moralischen Nullsummenspiel unter.
Besonders tragisch ist die Rolle des einstigen Helden aller Ostdeutschen,
Michail Gorbatschow. Gilt er in Deutschland als Ermöglicher der Einheit,
mutiger Reformer und respektierter Staatsmann, unterstellt man ihm in
Russland heute alles von Schwäche und Inkompetenz bis Verrat. Unter „Gorbi“
war die Sowjetunion zu progressiv fürs SED-Regime, das sowjetische Texte
zensierte und Fernsehsender sperren ließ.
## Huldigungen in Richtung Moskau
Unter Putin ist Russland ein verbrecherischer Staat, der die
Existenzberechtigung seines Nachbarn Ukraine, den man in Deutschland erst
kennenlernen musste, fundamental infrage stellt. Bis heute ist die
Gleichsetzung „Russland = Sowjetunion“ in Sachsen, generell im Osten, weit
verbreitet. Russland hat in dieser Lesart ein naturgegebenes Recht, über
innere Angelegenheiten eines souveränen Staates mitzureden – weil er früher
ein Teil der Sowjetunion war.
Seit Russland die Ukraine überfiel, hat die ostdeutsche Russophilie einen
neuen, dunklen Charakter. Als der Angriffskrieg begann, war ich selbst in
Russland und bin auf als Spaziergängen getarnten Demos dagegen mitgelaufen.
Bis die Polizei sie gewaltsam auflöste. Umso schwerer fällt es mir, die
wöchentlichen Huldigungen in Richtung Moskau zu ertragen, wenn Ostdeutsche
montags für „Frieden“ mit dem Diktator demonstrieren. Am 8. Juli, auch ein
Montag, wehte eine große Russlandfahne vor dem Dresdner Kulturpalast – an
jenem Tag, an dem Russland ein Kyjiwer Kinderkrankenhaus bombardierte. In
Sichtweite gedachte eine Gruppe Ukrainer der Opfer des Angriffs. Allein.
Ostdeutsche sah ich nur unter der russischen Flagge.
Robert Saar (24), in Berlin geboren und aufgewachsen, studierte in Dresden
und St. Petersburg Internationale Beziehungen, arbeitet als freier
Journalist und Museumsführer in Dresden.
31 Aug 2024
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Robert Saar
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