| # taz.de -- Overtourism in Süditalien: Das letzte gallische Dorf | |
| > Früher hörte unsere Autorin in ihrer Heimat nur den lokalen Dialekt, | |
| > jetzt das Schnattern auf Deutsch. Wie viel Tourismus verträgt eine | |
| > Region? | |
| Bild: Ganz geil: Kalte Süßwasserquellen sprudeln aus den Felsen und bieten be… | |
| Apulien taz „Lu Sule, Lu Mare, Lu Ientu“ – [1][Sonne], Wasser und Wind, so | |
| lautet das Versprechen, das der Salento seinen Besucher*innen gibt. | |
| Salento? Nur wenige Unwissende runzeln noch die Stirn, die meisten | |
| verstehen. | |
| Gemeint ist die [2][Südspitze Apuliens], der italienische Stiefelabsatz, | |
| eine Küstenregion erbaut aus weißem Stein, umgeben vom kristallklaren | |
| Wasser des Adriatischen und Ionischen Meeres. Am Kap prallen die beiden | |
| Wassermassen unterschiedlicher Blautöne aufeinander. Bei dieser Umarmung | |
| der Meere schäumt eine deutlich erkennbare Linie auf der Oberfläche. | |
| Wer an den zerklüfteten Felsvorsprüngen badet, an scharfen Steinkanten und | |
| Seeigeln vorbei, taucht ab in ein tiefes, frisches Blau. Kalte | |
| Süßwasserquellen sprudeln aus den Felsen und bieten bei Sommertemperaturen | |
| von bis zu 40 Grad eine willkommene Abkühlung. | |
| Wer Karibikfeeling sucht, streift durch Pinienwälder, bis ein feiner | |
| Sandstrand den staubigen Boden ablöst. Mehrere Meter kann man in das warme | |
| Wasser hinein waten und sich von den Wellen sanft hin und her wiegen | |
| lassen. | |
| Früher war all das ein Geheimtipp, jetzt wird [3][es Mainstream]. Für mich | |
| schwer vorstellbar. Es ist der Ort, an dem meine Familie verwurzelt ist und | |
| ich jeden Sommer meine Schulferien verbrachte. Sobald ich die Autotüren | |
| schloss, um die etwa zwölfstündige Fahrt von München bis ins tiefste | |
| Italien anzutreten, verwandelte sich das Vehikel in eine Zeitmaschine. In | |
| Apulien ticken die Uhren deutlich langsamer. | |
| ## Nichts vor der Heirat | |
| Ausgewanderte in der zweiten Generation waren dort lange Zeit das | |
| Exotischste, was vielen unter die Augen gekommen ist. Andersherum galt das | |
| genauso. Selbst als in Bayern sozialisiertes Kind ist diese alte Welt, | |
| deren Wertesystem von Tradition und Religion bestimmt wird, | |
| gewöhnungsbedürftig. | |
| Hier zählt, was die Nachbarschaft sagt und denkt. Die Tage haben einen | |
| festen Ablauf, jedes Dorf eine*n Schutzheilige*n mit dazugehörigem | |
| Fest. Frauen verlassen das Elternhaus meist nicht vor der Heirat, außer | |
| vielleicht zum Studieren. | |
| Junge Leute schleichen sich heimlich in der Dunkelheit zum Kondomautomaten. | |
| Erledigt man Besorgungen dieser Art in der örtlichen Apotheke oder im | |
| Supermarkt, wissen morgen alle Bescheid. | |
| Die Menschen sprechen eine Sprache, die nur wenig mit Standarditalienisch | |
| zu tun hat. Für ungeschulte Ohren dürfte das nach einer wilden | |
| Aneinanderreihung von Us klingen. Ich dachte immer: Das ist nichts für | |
| Leute von außerhalb. Man muss es schon kennen, um es zu lieben. | |
| Ich dachte, Apulien wäre das letzte gallische Dorf in einer Welt, die von | |
| Massentourismus, Pauschalreisen und Frühbucherrabatten angetrieben wird. | |
| Ich lag falsch. | |
| Bei meinem diesjährigen Besuch verzerren mehrsprachige Bäckereitafeln und | |
| Menükarten den gewohnten Anblick. Das Servicepersonal kleiner Restaurants | |
| scherzt in passablem Englisch, während es früher schon einer Verrenkung | |
| gleichkam, nicht im Dialekt zu sprechen. | |
| Wohin ich auch hingehe, das ständige Schnattern auf Deutsch, Englisch und | |
| Französisch irritiert meine Ohren. Ich selbst bin auch eine Touristin, | |
| dennoch empfinde ich den anderen gegenüber ein Störgefühl. Mir fallen die | |
| Videos aus Barcelona ein, die vor Kurzem viral gingen. Ansässige spritzten | |
| Tourist*innen mit Wasserpistolen nass und jagten sie davon. Eine | |
| [4][klare Ansage an den nie abreißenden Strom von Besucher*innen], die | |
| ganzjährig die Stadt überschwemmen. | |
| Was halten die Einheimischen hier davon, dass die Welt zu ihnen kommt? Auf | |
| den ersten Blick scheint ihnen das zu gefallen. Tourismus spült Geld in die | |
| Kassen, zwingt den Staat, hässliche Schandflecken auszubessern und längst | |
| überfällige Bauarbeiten anzugehen. | |
| ## Wider die frugalistische Infrastruktur | |
| Ich bemerke aber auch die bösen Blicke. Giftige Kommentare darüber, wie die | |
| vielen Menschen die frugalistische Infrastruktur überlasten und Preise in | |
| die Höhe treiben. | |
| Scheinbar sind sich die Menschen hier noch nicht einig, was mit dem neuen | |
| Boom anzufangen ist. Während die einen die Gunst der Stunde nutzen, | |
| betrachten andere es wohl als gefährliches Spiel mit dem Feuer. Vor ein | |
| paar Wochen mussten Tausende Urlauber*innen [5][nach einem massiven | |
| Waldbrand] ihre Ferienanlage verlassen. Als Ursache gilt Brandstiftung. War | |
| es Absicht? | |
| Der Brandherd lag ganz in der Nähe der touristischen Unterkunft. | |
| Ausschlaggebend war letztlich der Wind, der das Feuer in Richtung des Ortes | |
| trieb. Niemand äußert den Verdacht laut. Aber wer die Menschen hier ein | |
| bisschen beobachtet, merkt schnell: Mit Winden kennen sie sich aus. Sie | |
| stecken nur die Nase aus der Tür, um zu erkennen, welche der beiden | |
| typischen Brisen über den Stiefelabsatz fegt, der frische Nordwestwind | |
| Tramontanaoder der heiße Saharawind Scirocco. | |
| Heute reise ich nicht mehr mit dem Auto. Mittlerweile gibt es in der Region | |
| zwei Flughäfen und in den Sommermonaten mehrere Flüge pro Woche, sowohl von | |
| Standardanbietern als auch von Billig-Airlines. Auf dem Weg zum Gate | |
| analysiere ich meine Beobachtungen der letzten Tage und frage mich: | |
| Wie viel Mainstream verträgt die Magie eines Ortes? Wie viel Tourismus ist | |
| gut, bevor das Milieu kippt? Als ich aufschaue, sitzt vor mir die deutsche | |
| Autorin Sophie Passmann. Sie schenkt dem Kind, das neben ihr sitzt, eines | |
| ihrer Armbänder vom letzten Taylor-Swift-Konzert. | |
| 14 Aug 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Giorgia Grimaldi | |
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