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# taz.de -- Telefonieren ist out: Ruft mich nicht an!
> Das Schöne am Telefonieren war, dass man dazwischenreden konnte. Das ist
> jetzt auch vorbei.
Bild: Unangemeldete Anrufe bitte nur von Menschen, die mich siezen – Kundenbe…
Die kanadische Sängerin Carly Rae Jepsen erklärte 2012 in ihrem weltweiten
Hit „Call Me Maybe“, es sei zwar verrückt, aber hier sei ihre Nummer und
der Adressat des Liedes, den sie gerade erst kennengelernt hatte, möge sie
doch bitte anrufen. „Vielleicht“.
Ihr Song steht in der überschaubar großen, aber langen Tradition der
Ferngesprächslieder, von Margot Hielschers „Telefon, Telefon“ (Platz 4 beim
Eurovision Song Contest 1957) über „Hanging on the Telephone“ von Blondie
(1978) – und er wirkte schon bei Erscheinen seltsam anachronistisch.
Denn Jepsen ist 1985 geboren, mithin klassisches Millennial. Zu den wenigen
Dingen aber, auf die sich Menschen in den sozialen Medien einigen können,
gehört, dass Vertreter*innen dieser Generation eine Aversion gegen
Telefongespräche haben.
Ich möchte die [1][Phobien] anderer Menschen nicht kleinreden (ich habe zum
Beispiel ein echtes Problem damit, trockene Salatblätter anzufassen), aber
viel schlimmer, als ein Telefon in die Hand zu nehmen, sich kurz zu
überlegen, was man wie sagen möchte, die Nummer einzugeben und auf das
grüne Hörer-Symbol zu tippen, ist es ja wohl, angerufen zu werden. Noch
dazu, wie im Lied, zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt des Tages von einer
Person, die man gar nicht kennt und deren Nummer unbekannt ist.
## Schlechtes Gewissen
Ich bin die einzige Person in meinem Umfeld, die noch ein
[2][Festnetztelefon] hat, aber seit meine Großmutter vor anderthalb Jahren
starb, gibt es niemanden mehr, der mich dort erreichen will. Wenn meine
Eltern wiederum auf meinem Handy anrufen, denke ich immer, es sei was
Schlimmes passiert.
Dass man nicht mehr zu Hause auf einen wichtigen Anruf warten muss, führt
allerdings dazu, dass man in jeder Situation mobil angerufen werden kann.
Die meisten Millennials haben ihr Handy zwar eh immer lautlos gestellt (und
das, wo wir uns doch früher für Klingeltöne verschuldet haben!), aber wir
sind halt noch so erzogen worden, dass wir zumindest ein massives
schlechtes Gewissen mit uns rumschleppen, wenn wir nicht sofort rangehen –
sei es auf dem Kinderspielplatz, beim Date oder auf dem Klo.
Mein Vater sagt immer, es sei früher normal gewesen, vom Telefon aus dem
herausgerissen zu werden, was man gerade macht, aber „normal“ waren früher
auch: schlagende Lehrer, Herrenwitze und passivrauchende Kinder; so was
sollte ja nun wirklich nie ein Argument sein.
Das heißt nicht, dass ich nicht gerne Telefongespräche führe – ich möchte
nur vorher wissen, wann. Als Faustregel gilt dabei: Unangemeldete Anrufe
bitte nur von Menschen, die mich siezen – Kundenberater, Behörden und die
Schule meines Kindes.
## Für sexuelle Inhalte reserviert
Die Textnachricht hingegen ist nicht nur zeitlich unabhängig, weniger
aufdringlich und nahezu überall rezipierbar, sie ist meist auch zeitsparend
und prägnanter – zumindest, wenn die, die sie schreiben, einigermaßen
kohärent formulieren können.
Außerdem gibt es [3][Emojis], die bei der Interpretation helfen und die
Intention der Schreibenden besser zur Geltung bringen können. (Zumindest,
wenn alle Beteiligten wissen, wie welches Emoji zu verwenden ist. Das mit
dem hochgezogenen Mundwinkel und den zur Seite schauenden Augen ist für
sexuell aufgeladene Inhalte reserviert, Tante Brigitte!)
Was mich zu der Frage bringt, wie eigentlich die Sprachnachricht so
erfolgreich werden konnte, die viele Nachteile des Telefongesprächs in sich
vereint (Geräusch, Länge, Menschen bei der zögerlichen Erstbegehung ihrer
eigenen Gedankenwelt zuhören müssen), aber auf dessen einzigen Vorteil
verzichtet: die Möglichkeit, das Gegenüber zu unterbrechen.
13 Jul 2024
## LINKS
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## AUTOREN
Lukas Heinser
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Mobiltelefon
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