| # taz.de -- Ausgehen in Antwerpen: Die multikulinarische Brigade | |
| > Im Restaurant Instroom in Antwerpen kann man sehr gut essen. Die Köche | |
| > und Kellner sind vor Krieg, Terror und Verfolgung geflüchtet. | |
| Bild: Hoher Besuch im „Instroom“: Belgiens König Philippe, begrüßt von K… | |
| Antwerpen taz | Die Königliche Kunstakademie von Antwerpen ist ein | |
| prachtvoll neoklassizistischer Bau, ganz in strahlendem Weiß. Bis heute | |
| werden hier Kunstschaffende ausgebildet. Wir sind indes zum Essen hier, | |
| denn am Abend wird die Kantine der Akademie zum Restaurant Instroom. Und | |
| an diesem Abend beginnt das Dinner mit einem kleinen Stehempfang für unsere | |
| 16-köpfige Gruppe – die Teilnehmenden [1][der taz-Leser:innen-Reise | |
| Belgien] – inmitten der langen Gänge des Gebäudes. | |
| Überlebensgroße Büsten schauen zu, wie knusprige, kräutersatte | |
| Amuse-Gueules und ein Sekt-Aperitif serviert werden. Man ahnt die fehlende | |
| Routine der beiden Servicekräfte, dafür aber sind sie überaus engagiert bei | |
| der Sache. „Noch ein Glas?“ | |
| Danach werden wir an die Tische geleitet. Wir wandeln durch die Gänge rund | |
| um den Innenhof mit den mächtigen Rotbuchen, den verwilderten Gartenstücken | |
| und Statuen wichtiger Menschen aus dem Irgendwann. Aus einem der Räume | |
| begleitet uns ein leises metallisches Hämmern, hier arbeiten angehende | |
| Silberschmiede an ihren Semesterobjekten. | |
| In der offenen Kantinenküche eilen die jungen MitarbeiterInnen zwischen | |
| Pfannen und Töpfen hin und her. Die meisten von ihnen stammen aus Syrien, | |
| Eritrea und Nepal, aus Pakistan, Irak und der Ukraine. Einer von ihnen | |
| versucht unter Anleitung eine lindgrüne Gemüsepaste aus einem | |
| Sahne-Spritzbeutel auf die Menüteller zu tupfen. Es gelingt. Er lächelt | |
| erleichtert. | |
| ## Mehr als ein Gemüsekünstler | |
| Beinahe das gesamte Küchen- und Service-Team des Instroom besteht aus | |
| Menschen, die kürzlich noch vor Krieg, Folter und Verfolgung geflohen sind. | |
| Jetzt kochen sie in Antwerpen. Und präsentieren ihre Kreationen direkt am | |
| Tisch. Als Vorspeise serviert ein Thai eine Bowl seiner Heimat, ergänzt mit | |
| Spargelstücken a point gegart, mit Radieschen, Bergen von Kräutern, einem | |
| Häuflein Kaviar und einer hartgekochten Wachteleihälfte. „Zeer lekker“, | |
| sagt er auf niederländisch. Finden wir auch. | |
| An der Seitenwand der Kantine, zwischen zwei mächtigen Säulen, fällt ein | |
| riesiges Foto auf: Zwei Frauen und sechs Männer mit weißem Hemd und weißer | |
| Kochschürze inszeniert als Stillleben in einem großen Rettungsboot. Einer | |
| der Männer, in ironischem Heldengestus den Blick nach schräg oben Richtung | |
| Unendlichkeit gerichtet, ist „Le Chef“, Restaurantinhaber Seppe Nobels, 41. | |
| Nobels galt in den 2010er Jahren als versiertester Gemüsekoch Belgiens, er | |
| zauberte mit lila Blumenkohl, Nordsee-Algen und weitgehend vergessenen | |
| Gewächsen, Sprossen und Blüten, großteils selbst bioangebaut. Dann kam | |
| Corona. Nobels schloss sein edles Restaurant Graanmarkt 13 in Antwerpen und | |
| hatte eine bessere Idee anstelle der banalen Sternegastronomie. | |
| ## Koch-Akademie für Geflüchtete | |
| Warum nicht das weltumspannende Wissen um authentische ländertypische | |
| Küchen nutzen? Das kam ja mit den vielen Flüchtenden wie von selbst nach | |
| Europa, auch nach Belgien, auch in die Nachbarschaft. Und so ging Nobels | |
| mit ein paar Dolmetschern in eine Flüchtlingsunterkunft in Antwerpen und | |
| hörte sich um, oft bei verschüchterten Menschen, die erst ein paar Wochen | |
| in dieser ihnen fremden Welt waren. | |
| „Was hat Ihre Mutter am liebsten gekocht?“, mit dieser Frage fing Nobels | |
| gerne an. Dann, berichtet er, habe es meist begeisterte Erzählungen | |
| gegeben. Und man habe überlegt, was wohl alles zum Rezept gehört haben | |
| könnte. Eine Afghanin habe ihm gleich beim ersten Treffen erzählt, sie sei | |
| sehr kundig mit Kräutern aller Art. „Und als sie bei uns arbeitete, ging | |
| sie oft durch Wiesen und Wälder und brachte die tollsten Sachen mit.“ | |
| Bloß: eine reguläre Lehre dürfen Personen mit ungeklärtem Asylstatus auch | |
| in Belgien nicht machen. Nobels verhandelte mit der Stadtverwaltung, bis | |
| man ihm außerhalb aller Üblichkeiten eine vier Monate dauernde | |
| Koch-Akademie für Geflüchtete genehmigte. Dann legten sie los, entwickelten | |
| und verfeinerten gemeinsam Rezepte, belgisch variierte Gerichte entstanden. | |
| ## Die „multikulinarische Brigade“ | |
| Für die vier Monate, in denen die Geflüchteten im Instroom arbeiten, | |
| erhalten sie 420 Euro im Monat – in Belgien das Limit für Menschen mit | |
| ungeklärtem Asylstatus. Dazu gibt es Sprachkurse in kleinen Gruppen, Abhol- | |
| und Bringservice zur Unterkunft, auf Wunsch ersatzweise ein Fahrrad. Seppe | |
| Nobels übernimmt auch die Kosten für psychotherapeutische Unterstützung | |
| nach Fluchttraumata und anwaltliche Beratung bei Problemen mit den Ämtern. | |
| 2021 ging die „multikulinarische Brigade“, wie Nobels sie nennt, an den | |
| Start, die ersten beiden Jahre in einer weiß getünchten, renovierten | |
| Lagerhalle im Hafengebiet. Schnell sprach sich das herum, oft musste und | |
| muss man Wochen im Voraus buchen. Auch der belgische König ließ sich samt | |
| Entourage im Sommer 2022 blicken. Es soll ihm sehr gemundet haben. | |
| Durch die vergleichsweise geringen Personalkosten kann das Instroom mehr | |
| Menschen beschäftigen als vergleichbare Restaurants. Und so treten immer | |
| wieder neue Leute an die Tische. Eine Frau aus Chile, an diesem Tag mit | |
| ihren guten Englischkenntnissen so etwas wie die Chefkellnerin, kündigt | |
| jetzt den Hauptgang an: Gedünsteter Seebarsch mit Kräutermix und | |
| Senfkörnern auf Linsenpüree, serviert von einem jungen Venezolaner, | |
| zubereitet gemeinsam mit einem türkischen Kollegen. Insbesondere das | |
| feinwürzige Püree ist eine Wonne. | |
| Mittags kochen die Geflüchteten hier in kleinerer Besetzung für die | |
| StudentInnen. Dann ist das Instroom eine Mensa. Abends kostet das | |
| 5-Gang-Menü 55 Euro und wechselt im Wochenrhythmus. Mancher Gang ist | |
| spezifisch aus dem Fluchtland, oft sind die Rezepte crossover. Beim | |
| taz-Reisegruppen-Besuch im Vorjahr gab es etwa eine Lammkarbonade, deren | |
| himmlische Soße mit Gewürzen und Kräutern aus allen Schurkenstaaten dieser | |
| Welt zubereitet zu sein schien. | |
| Als Dessert serviert eine Iranerin ein Rechteck fluffigen Reiskuchen, dazu | |
| eine Kugel Joghurteis, feuerrote Erdbeeren, Pfefferminzblätter, | |
| Rosenwasser, Safran, Mandelsplitter. Ein Gedicht! Einziges Manko des | |
| Abends: Die Akustik in der Akademie-Kantine ist unterirdisch. Dafür kommt | |
| der abschließende alte Genever derart üppig eingefüllt, dass er auch als | |
| kleiner Wein durchgehen könnte. | |
| ## Der kleine Anker zur Heimat | |
| Eine aus unserer Gruppe bittet um ein zweites, leeres Glas, zum Teilen. Der | |
| junge Kellner hat sie nicht richtig verstanden und bringt ein zweites | |
| volles Glas an den Tisch. Kein Wunder bei dem Stimmgewirr und den vielen | |
| Sprachen im Raum. | |
| Lakonische Bemerkung einer Tischnachbarin: „Er hat die Aufgabe halt | |
| zurückgegeben. Wir müssen das Glas leeren.“ Na dann „Proost op je | |
| Gezondheid“, wie man in Flandern sagt. | |
| Wo wir gerade bei Flämisch sind: Instroom heißt übrigens so viel wie | |
| Hineinströmen, es ist der Kampfbegriff flämischer Populisten, ähnlich der | |
| deutschen „Ausländerflut“. Seppe Nobels hat den Begriff umgedreht: | |
| Kochwissen strömt ein, mit Rezepten und besonderen Kunstfertigkeiten am | |
| Herd. Und die Geflüchteten können ein wenig ihrer Esskultur in die neue | |
| Heimat retten, ein kleiner Anker. | |
| Viele aus den ersten beiden Jahren im Instroom sind mittlerweile im ersten | |
| Arbeitsmarkt gelandet: die meisten in der Gastronomie. „Aber wissen Sie“, | |
| sagt Seppe Nobels, „was das Wichtigste für all die Menschen ist? Alle | |
| sagen: Dass wir hier im Instroom eine große neue Familie gefunden haben.“ | |
| Zusammengeströmt von überall. | |
| 10 Jul 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Bernd Müllender | |
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