# taz.de -- Bergung von Altmunition in der Ostsee: Die Zeitbombe tickt am Ostse… | |
> Vor der Küste Schleswig-Holsteins startet zum ersten Mal weltweit der | |
> Versuch, systematisch Munition zu bergen. Der Beginn eines | |
> Generationenprojekts. | |
Bild: Wenn sich die Unterwasserbombe in ihre Bestandteile auflöst, wird es zun… | |
Lübecker Bucht taz | Im Licht der Scheinwerfer sieht die Ostsee grünlich | |
aus. Winzige Schatten huschen vorbei, ob es Fische oder Algen sind, lässt | |
sich auf dem Bildschirm schlecht erkennen. Der Bildschirm steht an Bord der | |
FS Alkor – die Abkürzung steht für „Forschungsschiff“ –, davor sitzen… | |
Greinert, Professor für Meeresgeologie am Geomar Helmholtz-Zentrum für | |
Ozeanforschung in Kiel und Leiter der Arbeitsgruppe Tiefseemonitoring, und | |
ein Kollege. Der Kollege steuert den Tauchroboter, dessen Bilder auf dem | |
Monitor erscheinen. Ein zweiter Bildschirm zeigt den Roboter, der den | |
Spitznamen „Käpt’n Blaubär“ trägt, als kleinen blauen Fleck an. | |
Käpt’n Blaubärs Scheinwerferlicht erfasst eine Kiste, die auf dem sandigen | |
Boden liegt. Ein Krebs hockt darauf, er scheint mit den Zangen zu dem | |
Tauchroboter hinaufzuwinken. Für den Krebs sei die Kiste ein perfekter | |
Platz, erklärt Greinert: „Etwas erhöht, fester Untergrund.“ Eine Art | |
Mini-Riff, an dem Algen wachsen und kleine Fische Schutz suchen können. | |
Doch statt Sicherheit birgt die Kiste Gefahr: Sie enthält Sprengstoff, | |
[1][alte Munition aus dem Zweiten Weltkrieg], dessen chemische Bestandteile | |
langsam in die See sickern. Sie werden von den Fischen und Krebsen durch | |
die Haut und über die Atmung aufgenommen. | |
Die Strömung transportiert die Partikel weiter, sie lagern sich in Pflanzen | |
an, im Wasser und auf dem sandigen Untergrund. Sie erreichen auch Menschen, | |
etwa beim Baden oder in einem Fischbrötchen. Wobei ein Fischbrötchen kein | |
Problem ist – noch müsste ein Mensch täglich kiloweise Fisch essen, um eine | |
Reaktion zu spüren. Doch die Gefahr wächst, je älter die Behälter werden. | |
Bei Tieren und Pflanzen lassen sich bereits Folgen nachweisen. | |
## Streubomben und Artilleriemunition | |
Ab August soll zum ersten Mal versucht werden, die Weltkriegs-Altlasten im | |
großen Stil aus dem Meer zu holen. Das sei etwas ganz Neues, sagt Katja | |
Günther (Grüne), Staatssekretärin des Kieler Umweltministeriums, die an | |
diesem Tag das Forschungsteam auf der Alkor besucht: „Bisher wurde nur | |
anlassbezogen geräumt“, etwa wenn eine Pipeline gelegt werden sollte oder | |
Schifffahrtslinien gefährdet waren. „Jetzt werden wir klären, wie man im | |
größeren Stil bergen kann.“ | |
Zuständig ist allerdings nicht das Land, sondern der Bund. Das | |
[2][Bundesumweltministerium hat ein Sofortprogramm aufgelegt], das 100 | |
Millionen Euro umfasst. Ein Teil des Geldes geht an die drei kooperierenden | |
Firmen „Seaterra“, „Eggers Kampfmittelbergung“ und „Hansataucher“. … | |
werden ab Mitte August in vorher festgelegten Gebieten verschiedene Sorten | |
von Munitionsresten bergen – Kisten, Streubomben, die in etwa die Größe und | |
Form von Thermoskannen haben, und Artilleriemunition. Dabei testen sie | |
unterschiedliche Techniken: Deckskräne mit verschiedenen Greifern, die die | |
Kisten anheben sollen, einen Crawler, der mit einem Roboterarm die | |
Munition unter Wasser in Körbe legt, sowie ferngesteuerte | |
Unterwasserfahrzeuge. | |
Alles, was die Räumungsteams vom Grund fischen, muss an Land zerstört | |
werden. Die Alt-Munition einfach zu sprengen, kommt nicht infrage, weil | |
dabei die Giftstoffe in die Umwelt entlassen würden. Daher werden die | |
Bombenreste in die niedersächsische Kleinstadt Munster transportiert, wo | |
die „Geka“ ihren Sitz hat. Die Geka ist eine bundeseigene Spezialfirma für | |
die Entsorgung von Kampfmitteln. | |
Doch deren Kapazitäten sind begrenzt, und auch der Transport von so viel | |
Munition über Land sei teuer und schwierig, erklärt Staatssekretärin | |
Günther. Daher gibt es eine zweite Phase des Sofortprogramms, für die noch | |
bis Herbst die Ausschreibung läuft. Gesucht werden Plattformen, die die | |
Munitionsreste direkt auf See entschärfen und zerlegen – alles automatisch. | |
Mehrere Firmen, darunter die Kieler Werft Thyssen-Krupp Marine Systems, | |
Spezialistin für U-Boote und sonstiges schwimmendes Kriegsgerät, bewerben | |
sich. Für die Branche ist der Auftrag attraktiv, weit über das | |
Sofortprogramm hinaus: In einem Positionspapier der „Gesellschaft für | |
Maritime Technik“, einem Verband maritimer Unternehmen, wurde bereits 2022 | |
die „Wertschöpfungsperspektive für die deutsche meerestechnische | |
Wirtschaft“ [3][durch die Bergung von Munition beschrieben]. | |
Denn die Aufgabe ist gewaltig. Die 50 Tonnen, die die Firmen im Rahmen des | |
Sofortprogramms vom Ostseegrund holen sollen, sind nur ein Bruchteil | |
dessen, was dort unten liegt. Bis zu 1,6 Millionen Tonnen konventioneller | |
Munition sind während und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg allein in | |
den deutschen Gewässern der Nord- und Ostsee gelandet. Ein Teil stammt von | |
britischen Flugzeugen, die beim Rückflug nicht verbrauchte Bomben über dem | |
Meer abwarfen. Doch die meisten Bomben, Sprengkörper und Artilleriemunition | |
haben die besiegten Deutschen selbst ins Wasser gekippt, als das Land nach | |
der Kapitulation schnell entwaffnet werden musste. Voll beladene Schuten | |
transportierten die Altlasten ab. Irgendwo auf See, oft noch in Sichtweite | |
der Küste, klappten die Boote ihre Böden auf. | |
## Schutz durch den Nordsee-Sand | |
In der Nordsee, wo rund 1,3 Millionen Tonnen Munition vermutet werden, | |
deckte dank der stärkeren Gezeiten Sand im Lauf der Jahrzehnte die | |
Überreste des Krieges zu. Das wirke wie eine Schutzschicht, die die | |
metallischen Sprengkörper schützt, erklärt Greinert. | |
Doch in der flachen Ostsee liegt das Material offen auf dem Sand und | |
verrottet Jahr für Jahr mehr. Es ist, ganz buchstäblich, eine gigantische | |
Zeitbombe. | |
Käpt’n Blaubär, der Tauchroboter, hat inzwischen die Munitionskiste | |
verlassen und steuert das eigentliche Ziel dieser Unterwasserfahrt an: | |
einen Torpedo. Der gut sechs Meter lange Stahlleib ist mit Algen bewachsen. | |
Seesterne kleben auf der Oberfläche, ein Krebs bewegt sich gemächlich zur | |
Seite. Für Jens Greinert ist der Torpedo ein alter Bekannter: Regelmäßig | |
schaut die Alkor-Besatzung nach, wie kaputt die Hülle ist. Für die | |
Greifroboter, die ab August in der Bucht unterwegs sein werden, ist ein | |
Torpedo zu groß. Sollte Gefahr im Verzug sein, müsste der | |
Kampfmittelräumdienst ans Werk. Denn poröse Torpedos könnten auftreiben und | |
Fischernetze oder Boote gefährden. | |
Greinert und sein Team haben im Lauf der Jahre viele Fundstellen | |
untersucht. Dafür sind neben dem kleinen Blaubär, der über eine Konsole | |
gesteuert wird, mehrere autonome Tauchroboter unterwegs. Sie machen Fotos, | |
aus denen die Besatzung genaue Karten erstellt. | |
Mit diesem Material können die Bergungsteams arbeiten, erklärt Greinert. | |
Die Zusammenarbeit mit den kommerziellen Firmen findet der Wissenschaftler | |
genau richtig. Auch der Ablauf des Verfahrens sei stimmig und sinnvoll. Und | |
Greinert sieht Hoffnungen für die Gewässer weltweit, in denen ebenfalls | |
Munitionsreste liegen: „Andere Meere mögen tiefer oder salzhaltiger sein | |
als die Ostsee, aber wenn die Technik hier funktioniert, [4][klappt es auch | |
in anderen Gewässern“], ist der Meeresforscher überzeugt. | |
Die gesamte Munition aus dem Meer zu bergen, ist eine Generationenaufgabe. | |
Vor allem aber ist es teuer. Greinert schätzt, dass mehrere Plattformen | |
rund 15 Jahre lang im Dauereinsatz arbeiten müssten, um allein die Ostsee | |
vom Kriegsmüll zu befreien. Lohnt sich das? Ist es überhaupt möglich? | |
Versuchen müsse man es zumindest, sagt Staatssekretärin Günther: „Das Land | |
setzt sich dafür ein.“ | |
Oben an Deck heben Besatzungsmitglieder den Tauchroboter an Bord. Seine | |
blauen Schwimmkörper zeigen, woher er seinen Namen hat. Der Blaubär-Roboter | |
hat nicht nur Fotos, sondern auch Wasserproben mit an die Oberfläche | |
gebracht, die an Bord untersucht werden. Nach einer halben Stunde | |
präsentiert der Geomar-Chemiker Aaron Beck das Ergebnis: Im Wasser sind | |
Spuren von Hexogen zu finden, einem giftigen Sprengstoff. | |
10 Jul 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Munition-in-Nord--und-Ostsee/!5996450 | |
[2] https://www.bmuv.de/themen/meeresschutz/munitionsaltlasten-im-meer | |
[3] https://www.allianz-meeresforschung.de/app/uploads/2022/10/gmt-papier-munit… | |
[4] /Gefahr-fuer-Nord--und-Ostsee/!5954952 | |
## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
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