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# taz.de -- Niedergang der Tories: Bis der Letzte fällt
> Großbritanniens Konservative treiben nach Jahrzehnten der
> Selbstzerfleischung auf die Wahlniederlage zu. Wird es die schlimmste
> seit einem Jahrhundert?
Bild: Zur Tür raus: Noch-Premierminister Rishi Sunak erlebt am Donnerstag sein…
Berlin taz | Machtwechsel in Großbritannien gehen schnell und brutal. Am
Morgen nach der Wahlniederlage fährt der scheidende Premierminister im
Dienstwagen mit Polizeieskorte zum Buckingham Palace, legt gegenüber dem
König sein Amt nieder und ist augenblicklich nicht mehr Premierminister.
Den Palast muss er mit eigenen Mitteln verlassen, Dienstwagen und
Polizeieskorte warten auf den designierten Nachfolger, der wenig später als
gewöhnlicher Mensch den Palast betritt und ihn als Premierminister wieder
verlässt. Der Neue bezieht noch am selben Tag seinen Amtssitz samt
Dienstwohnung in 10 Downing Street und hält eine Ansprache an die Nation
vor der berühmten schwarzen Tür.
An diesem Donnerstag wird im Vereinigten Königreich gewählt. Bis
Freitagmittag ist für [1][Rishi Sunak] voraussichtlich alles vorbei – keine
zwei Jahre nachdem der konservative Regierungschef im Oktober 2022 seine
Vorgängerin Liz Truss [2][nach der kürzesten Amtszeit in der britischen
Geschichte] abgelöst hatte. Die war im September 2022 auf Boris Johnson
gefolgt, der 2019 auf Theresa May gefolgt war, die 2016 auf David Cameron
gefolgt war. Fünf Konservative innerhalb von sechs Jahren, und am Ende
bleibt ein Scherbenhaufen. Es droht die womöglich schwerste Tory-Niederlage
bei einer Parlamentswahl seit 1906, als sie von 402 auf 156 Sitze im
Unterhaus abrutschten.
Heute liegen 156 Sitze schon eher am oberen Rand der Erwartungen für die
Wahlnacht. Bei der letzten Wahl 2019 unter Boris Johnson holten die
Konservativen noch eine satte absolute Mehrheit mit 365 der 650
Unterhausmandate und rechneten sich mindestens zehn weitere Jahre an der
Macht aus. Ein paar Monate später kam Corona und die Welt war plötzlich
eine andere – eine Welt, für die Boris Johnson, der in großen Visionen
denkt und das Alltagsgeschäft des Regierens nicht beherrscht, denkbar
ungeeignet war.
Johnsons aus den eigenen Reihen bewirkter Sturz gut zwei Jahre später war
nur eine Frage der Zeit. Aber das befriedete die Tories nicht, im
Gegenteil. Im Basisvotum vom Sommer 2022 setzte sich die Johnson-Anhängerin
Liz Truss durch. Das war nicht vorgesehen. Sie war aber so inkompetent,
dass es ein Leichtes war, sie nach sechs Wochen durch ihren unterlegenen
Gegner Rishi Sunak zu ersetzen. Der sollte das festgefahrene Tory-Schiff
wieder flottmachen. Aber wenn kein Mitglied der Crew den anderen über den
Weg traut, kann kein Schiff vom Fleck kommen. Die Konservativen treiben
seit Jahren ziellos auf dem sinkenden Schiff, während sich in der
britischen Öffentlichkeit der Eindruck festsetzt, dass nichts mehr
funktioniert und niemand sich kümmert.
## Intrigen werden mit Gegenintrigen beantwortet
Das ist Labours Chance, und es ist das Ergebnis von Jahrzehnten
konservativer Selbstzerfleischung. Vom Sturz der erfolgreichsten
Tory-Premierministerin überhaupt, Margaret Thatcher, durch die eigenen
Minister 1990 hat sich die Partei nie erholt. Sie ging 1997 in die
Opposition gegen einen auftrumpfenden Tony Blair und fand erst 2010 unter
David Cameron an die Macht zurück, schwächer und zerrissener als vorher.
Schon das Brexit-Referendum 2016 war im Wesentlichen ein Erbstreit um
Camerons Nachfolge zwischen dem beliebten Londoner Oberbürgermeister Boris
Johnson und dem allmächtigen Finanzminister George Osborne. Das
Johnson-Lager gewann das Referendum, aber das Osborne-Lager behielt die
Kontrolle über den Parteiapparat und hievte Theresa May auf Camerons
Posten. Erst als sie gescheitert war, kam dann doch Johnson dran, von
Anfang an als eine Art Betriebsunfall bitter bekämpft.
Johnsons Gegnern gelang es jedoch frühzeitig, Rishi Sunak als
Finanzminister im Kabinett zu installieren, der 2022 an der Spitze vieler
anderer Minister Johnsons Rücktritt erzwang. Diese Intrigen wurden wiederum
mit Gegenintrigen beantwortet. Heute sind die Konservativen eine von
Misstrauen und Missgunst zerfressene Partei. Sie regiert kaum noch, sondern
trägt endlose Hahnenkämpfe aus, deren Protagonisten völlig skrupellos
agieren und sich allesamt mehr um das eigene Fortkommen scheren als um das
Wohl des Landes.
Dafür dürfte es nun an der Wahlurne die Quittung geben. Alle Fraktionen
innerhalb der Partei sind inzwischen davon überzeugt, der jeweilige Gegner
treibe den Laden absichtlich in den Ruin, um hinterher die Scherben alleine
aufsammeln zu können. Die aufmüpfige Tory-Rechte träumt von einer
geläuterten populistischen Partei, die ihre alten korrupten
Führungsstrukturen abgeschüttelt hat. Die damit gemeinten Eliten wiederum
würden ihre peinlichen rechten Rivalen gerne abstoßen und wieder unter sich
bleiben, als traditionelle technokratische Dauerregierungskraft ohne
Ideologie, die allein alle Hebel der britischen Macht zu bedienen weiß und
sich höchstens ab und zu eine Verschnaufpause in Form eines
Labour-Interregnums gönnt.
Beide Lager zerschlagen lieber die eigene Partei, als sie dem
parteiinternen Gegner zu überlassen. Die ehemalige Kulturministerin Nadine
Dorries, die zum rechten Lager zählt, hat diesen desolaten Zustand in ihrem
Buch „The Plot: The Political Assassination of Boris Johnson“ am
schillerndsten beschrieben. Sie skizziert dort das Bild eines seit
Jahrzehnten die Strippen in der Partei ziehenden Klüngels, der sich durch
seine Kontrolle der Personalpolitik ewig halte und mit Mafiamethoden
regiert: Skandale werden bewusst inszeniert oder an loyale Medien geleakt,
um unbotmäßige Parteifreunde zu erpressen oder zu entmachten. Boris Johnson
habe man gezielt den einstigen Brexit-Chefideologen Dominic Cummings, dem
Johnson irrigerweise blind vertraute, als mächtigster Berater zur Seite
gestellt, damit der den Premier zu Unsinn ermutigt und [3][so demontiert].
## Eine schwarze Frau als neue Tory-Chefin?
Das Buch mit größtenteils anonymen Quellen wurde nach seinem Erscheinen im
Herbst 2023 weithin verlacht, aber bisher haben sich alle Vorhersagen darin
bewahrheitet: Strippenzieher Michael Gove werde sich verabschieden; Rishi
Sunak habe seine Schuldigkeit, Johnson zu begraben, getan und werde alsbald
das nächste Opfer gezielter Demontage sein; als Nachfolgerin werde der
Apparat Handelsministerin Kemi Badenoch aufbauen, prominenteste Schwarze
der Tories. Am Wahltag erscheint die zweite Auflage des Buchs.
Tatsächlich wird die wortgewandte, streitbare Badenoch inzwischen in den
Medien als Favoritin auf Sunaks Nachfolge an der Parteispitze gehandelt.
Michael Gove hingegen tritt nicht mehr an, wie überhaupt fast alle
bekannten Gesichter aus den vergangenen 14 konservativen Jahren die
politische Bühne jetzt freiwillig verlassen. Und tatsächlich hat Sunak im
Wahlkampf viele unerklärliche Fehler gemacht, die nur Sinn ergeben, wenn
man ihnen das Ziel einer Wahlniederlage unterstellt.
Dazu zählt etwa seine vorzeitige Abreise von den D-Day-Gedenkfeiern in der
Normandie am 6. Juni, was seinen Ruf als Staatsmann irreparabel
beschädigte. Schon sein kurzfristiges Ausrufen der vorzeitigen
Parlamentswahl am 4. Juli warf die Frage nach seinen Beratern auf. Es
folgte ein kurioser Wettskandal – zahlreiche Tory-Politiker wetteten vorab
auf den Wahltermin 4. Juli, wurden dann prompt geoutet und suspendiert,
darunter Sunaks Wahlkampfleiter, ein echter Klassiker von selbst
produzierten Tory-Skandalen.
Politischer Selbstmord als bewusste Strategie? Schon klar: Je mehr
Konservative aus dem Parlament fliegen, desto mehr Rivalen in der Partei
werden kaltgestellt. Aber wird am Ende irgendjemand übrigbleiben? Was für
ein Ende für eine fast 200 Jahre alte Partei, die sich selbst als die
älteste und erfolgreichste Regierungspartei der Welt sieht und bis zum
Schluss gar nicht auf die Idee kam, dass sich daran jemals etwas ändern
könnte.
3 Jul 2024
## LINKS
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[3] /Nach-Vorwuerfen-von-Ex-Berater/!5768549
## AUTOREN
Dominic Johnson
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Kolumne Die Wahrheit
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