| # taz.de -- Machtwechsel in Großbritannien: Jubel in Rot | |
| > Nach einer historischen Wahlnacht herrscht in London Freude über Labours | |
| > Wahlsieg. Nun beginnt die harte Arbeit. | |
| Bild: Patystimmung bei der Partei: Auf der Wahlfete von „Labour List“ in Lo… | |
| London taz | Das uralte Pub „The Lexington“ zwischen den Londoner | |
| U-Bahnhöfen Angel und Kings Cross ist zum Bersten gefüllt. 300 bis 400 | |
| Menschen drängen sich in den prächtigen Räumlichkeiten, viele Wartende vor | |
| der Tür werden wohl nicht hineinkommen. Unter den großen Kronleuchtern über | |
| der Bar starren die Leute mit Biergläsern in der Hand auf eine große | |
| Leinwand. | |
| Hier wird kein Fußballspiel übertragen, sondern hier wartet man voller | |
| Spannung auf die ersten Ergebnisse der Parlamentswahl vom 4. Juli. Überall | |
| im Vereinigten Königreich gibt es an diesem Donnerstagabend ähnliche | |
| Veranstaltungen. Die Atmosphäre ist geladen, so als warte man auf eine neue | |
| Mondlandung. Irgendjemand ruft „Fuck the Tories!“. | |
| Als ein Bild von 10 Downing Street erscheint, kommt sogar abfälliges | |
| Geschrei aus allen Ecken, ebenso bei einer [1][Aufnahme von Nigel Farage] | |
| beim Eisessen. Ein [2][Video von Keir Starmer] erhält Beifall. Dabei hat | |
| die eigentliche Wahlnacht noch gar nicht begonnen. | |
| Punkt 22 Uhr schließen die Wahllokale und in derselben Sekunde erscheint | |
| die gemeinsame Wahlprognose der TV-Sender auf der Großleinwand: 410 Sitze | |
| für Labour – eine gigantische absolute Mehrheit. | |
| ## „Endlich die Konservativen los“ | |
| Die weiteren Zahlen gehen im ohrenbetäubenden Jubel unter. „Nach vierzehn | |
| Jahren sind wir endlich die Konservativen los geworden“, erklärt die | |
| 29jährige Isabel Beaumour in einer Gruppe von Jubelnden schließlich, als | |
| man wieder ein Wort verstehen kann. Sie freut sich vor allem über das Ende | |
| der Tories, weniger über den Sieg Labours, sagt sie dazu. | |
| In einer anderen Ecke spricht der 33-jährige Chris Norris von Hoffnung. Er | |
| hofft, dass jetzt eine Zeit anbricht, in der Menschen sich gegenseitig | |
| unterstützen. | |
| Knapp fünf Kilometer quer durch die Stadt in der Nähe des Westlondoner | |
| Bahnhofs Paddington geht es im Kellerraum eines Pubs ruhiger zu. Von hier | |
| aus beobachtet „Black Politicos“, ein Netzwerk von schwarzen | |
| Politikexpert:innen, die Wahlnacht. Sie diskutieren eifrig miteinander. | |
| Andre, ein 26-jähriger Buchhalter aus Croydon im Süden Londons, spricht von | |
| einem begrüßenswerten Regierungswechsel. Aber ohne Überzeugung. | |
| Andre ist zum Beispiel skeptisch, ob die Verstaatlichung mancher | |
| öffentlicher Dienste wie des Energiesektors ein Erfolgsrezept ist, und | |
| nennt das britische Gesundheitssystem als Beispiel, wo derartiges nicht gut | |
| laufe. Er selbst tendiert zu den Grünen, er arbeitet mit grünen | |
| Unternehmen. | |
| Auch die 26-jährige Anwaltsgehilfin Sola Ajayi – sie betont, dass sie mit | |
| Menschenrechten arbeitet – ist keineswegs außer Rand und Band. Sie sagt, | |
| dass Labour nicht unbedingt die Interessen vieler Schwarzer treffe: sie | |
| verweist auf Palästina und auf die schwarze Labour-Abgeordneter Diane | |
| Abbott, die darum kämpfen musste, in ihrem Wahlkreis wieder antreten zu | |
| dürfen. | |
| „Starmers dünne Labour-Versprechen haben uns verunsichert“, sagt sie. Das | |
| bedeute aber nicht, dass sie für die Tories sei, auch wenn da „People of | |
| Colour“ mit an der Macht waren. Auch Sola tendiert eher zu den Grünen. Aus | |
| taktischen Gründen hat sie in ihrem Wahlkreis Honchurch östlich von London | |
| dann doch Labour gewählt, um einen Sieg der Tories zu verhindern. | |
| „Labour war jetzt die bessere Option im Vergleich zum Tory-Bürgerkrieg, mit | |
| Brexit, Liz Truss und Partygate“, glaubt demgegenüber David Omojomolo. Der | |
| 32-jährige Ökonom hofft auf Verbesserungen im Gesundheitswesen. Aber auch | |
| er findet, dass schwarze Wähler:innen größtenteils nicht ernst genug | |
| genommen werden. „Sie werden in einen Topf geworfen, als hätten alle die | |
| gleiche Meinung.“ | |
| ## Labour-Martinis zum Sonderpreis | |
| Wieder in einer anderen Ecke der Londoner Innenstadt feiern in einer Bar | |
| die Gäste von „Labour List“, einem Magazin von und für | |
| Labour-Basisaktivisten. Zwischen roten Luftballons und ein paar britischen | |
| Papierfähnchen hängt auch hier eine große Leinwand. Die Nacht ist | |
| fortgeschritten, immer wieder trudeln neue Ergebnisse aus einzelnen | |
| Wahlkreisen ein. Der Tory-Absturz bestätigt sich, Labours Vorsprung ist | |
| ungebrochen. Die Stimmung ist bestens. | |
| Unter Spiegelkugeln mit Disco-Beleuchtung tanzen Leute zu lauten Hits, an | |
| der Bar gibt es „Labour Martinis“ zum Sonderpreis. Jedes Mal, wenn wieder | |
| ein Wahlkreisergebnis mit einem Labour-Sieg an der Leinwand erscheint, | |
| stoppt die Musik, und man hört mit lautem Jubel die Übertragung der Zahlen. | |
| Die Labour-Aktivisten Petra Underwood, Alaina Khan und Rouben Bouchard sind | |
| alle 21 Jahre alt und alle überglücklich. Dieser Sieg sei „die Stimme | |
| unserer Generation“, meinen sie. Aber waren Starmers Wahlversprechen nicht | |
| zu dünn? „Nein!“, glaubt Petra. „Boris Johnson versprach die Welt und gab | |
| den Menschen falsche Hoffnung. Ich glaube, dass die Labourstrategien | |
| ziemlich radikal sind, aber kommunikativ nicht deutlich genug gemacht | |
| werden.“ | |
| Es sei außerdem verdammt harte Arbeit gewesen, erzählt sie. Ein Jahr lang | |
| half sie im Nordlondoner Tory-Wahlkreis Finchley & Golders Green der | |
| Labourkandidatin Sarah Sackman freiwillig, „jedes Wochenende!“ wie sie | |
| betont. Es hat sich gelohnt, wie sich später heruasstellen wird: Der Sitz | |
| fällt in dieser Nacht an Labour. | |
| Rouben aus Bristol ist ebenfalls außer sich vor Begeisterung. Einzig der | |
| Erfolg von Reform UK dämmt die Freude für ihn etwas. Selbst einige seiner | |
| Freunde hätten Reform gewählt, gesteht er, „weil sie niemanden mehr | |
| trauten“, sagt er, als verstehe er es irgendwie. | |
| ## Erinnerung an Tony Blairs Wahltriumph | |
| Ein paar Tische weiter sitzt der 46-jährige Matt Willey. Er kann weiter | |
| zurückblicken als die drei 21-Jährigen. 2010 kandidierte er in Surrey Heath | |
| im Süden Englands, dem Wahlkreis des langjährigen Tory-Ministers Michael | |
| Gove, für Labour und wurde Dritter. Jetzt verlieren die Konservativen auch | |
| diesen Wahlkreis, wenngleich an die Liberaldemokraten. Im gesamten Südosten | |
| Englands ist von der einstigen Tory-Dominanz so gut wie nichts | |
| übriggeblieben. | |
| „Es fühlt sich fast an wie 1997“, erinnert sich Matt Willey an Tony Blairs | |
| Wahltriumph, als er selbst noch ganz jung war und frisch für Labour | |
| arbeitete. Auch damals sei es darum gegangen, nach Jahren der | |
| Vernachlässigung zu beginnen, das Land wieder aufzubauen. „Die Tories | |
| mussten diesmal verlieren, denn sie müssen endlich ernsthaft darüber | |
| nachdenken, was gemäßigte rechte Politik ist“, findet er. | |
| Für Labour geht es jetzt darum, [3][bessere Gesundheitsversorgung] und | |
| andere Dienstleistungen zu liefern, setzt Matt Willey fort und erläutert: | |
| „Das bedeutet nicht unbedingt, mehr Geld auszugeben, sondern man muss die | |
| Dinge einfach anders und effizienter machen. Und dafür sind jetzt die | |
| richtigen Leute an der Macht“. Er verweist auf die voraussichtliche | |
| zukünftige Finanzministerin Rachel Reeves und freut sich auf eine Regierung | |
| von „Erwachsenen“, der aber noch schwere Arbeit bevorstehe. | |
| „Anders als 1997 steht heute viel mehr auf dem Spiel, wenn es die Regierung | |
| nicht richtig hinkriegt“, warnt Willey und ist dennoch froh, dass es | |
| endlich so weit ist. Da wird er wieder von Geschrei und Jubel unterbrochen. | |
| Wieder hat Labour den Tories einen wichtigen Wahlkreis abgerungen. | |
| Die Scheinwerfer strahlen rotes Licht auf die Spielkugeln. Es fühlt sich | |
| nach mehr an als eine Mondlandung. Scheinbar ist eine riesige Delegation | |
| von roten Planeten mitten in Westminster am Ufer der Themse gelandet. | |
| 5 Jul 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Daniel Zylbersztajn-Lewandowski | |
| Dominic Johnson | |
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