# taz.de -- Machtwechsel in Großbritannien: Keir Starmer wird Premierminister | |
> Der britische Labour-Chef tritt sein Amt an, die Konservativen sind am | |
> Boden zerstört. Aber im Detail sind die Ergebnisse durchwachsen. | |
Bild: Wer beim König sitzt, hat es geschafft. Keir Stahmer bei König Charels … | |
Berlin taz | Der strömende Regen hat sich verzogen, ein breites Grinsen | |
füllt Keir Starmers Gesicht. Beides war im britischen Wahlkampf eher | |
selten. Aber jetzt hat Labour die Wahlen gewonnen. Am Freitag mittag kehrt | |
Starmer von König Charles III zurück, der ihn nach Rishi Sunaks Rücktritt | |
als Premierminister mit der Regierungsbildung beauftragt hat. | |
Er schüttelt unzählige Jubelhände in der Menschenmenge vor 10 Downing | |
Street, tritt schließlich vor die berühmte schwarze Tür und sagt nüchtern: | |
„Good Afternoon.“ | |
Eine neue Ära hat im Vereinigten Königreich beginnen. Die Konservativen | |
sind abgewählt, mit dem größten Wahldebakel ihrer fast 200jährigen | |
Geschichte. Labour ist zurück mit einer der größten absoluten Mehrheiten | |
der Parlamentsgeschichte. | |
„Jetzt hat unser Land eindeutig für Wandel gestimmt, für nationale | |
Erneuerung und für eine Rückkehr der Politik in den Dienst der | |
Öffentlichkeit“, ruft Premierminister Keir Starmer in seiner | |
[1][Antrittsrede.] „Eure Regierung sollte jeden einzelnen Menschen in | |
diesem Land mit Respekt behandeln“, mahnt er und guckt wieder gewohnt | |
streng die schweigenden Labour-Wahlhelfer vor ihm an, die ihm eben noch | |
scharenweise um den Hals gefallen sind. Ernste Zeiten erfordern ernste | |
Chefs. | |
## Weniger Stimmen für Labour als unter Corbyn | |
Denn dieser Labour-Wahlsieg ist auf dünnem Eis gebaut. Weit entfernt | |
scheint der Triumph von 1997, als Labour mit Tony Blair an der Spitze 13,5 | |
Millionen Stimmen, 43 Prozent und 418 Sitze im Unterhaus holte, um dann | |
dreizehn Jahre lang zu regieren. Dieses Jahr gibt es bloß 9,7 Millionen | |
Stimmen und weniger als 34 Prozent. Sogar Jeremy Corbyn hatte bei seinem | |
Wahldebakel 2019 mehr Stimmen für Labour erhalten. | |
Nur wegen der gesunkenen Wahlbeteiligung liegt der Stimmanteil jetzt | |
geringfügig höher als vor fünf Jahren. Aus dem 20-Prozent-Vorsprung Labours | |
in fast allen Umfragen vor der Wahl ist ein 10-Prozent-Vorsprung geworden, | |
ein deutlicher Dämpfer also. | |
Die Konservativen erleben dennoch das größte Debakel ihrer 200jährigen | |
Parteigeschichte. Von knapp 44 Prozent bleiben knapp 24 Prozent übrig, von | |
365 Sitzen gerade mal 121. Insgesamt verlieren 44 Minister und | |
Staatsminister ihre Wahlkreise und damit ihre Abgeordnetenmandate – im | |
britischen Wahlsystem gibt es keine Parteilisten; wer seinen Wahlkreis | |
verliert, fliegt aus dem Parlament. | |
Zu den Tory-Größen, die das plötzliche Ende ihrer Karriere kaum fassen | |
können, gehören Verteidigungsminister [2][Grant Shapps], der in seiner | |
kurzen Abschiedsrede sein Entsetzen kaum verbergen kann; Bildungsministerin | |
[3][Gillian Keegan], die vorzeitig die Bühne verlässt; und | |
Expremierministerin [4][Liz Truss], von der lange Zeit unklar bleibt, ob | |
sie überhaupt zu ihrer Ergebnisverkündung auf die Bühne kommt. | |
Alle Tory-Verlierer sind sich einig: die Niederlage ist selbstverschuldet, | |
logische Folge des „Zirkus“ der vergangenen Jahre, wie es der abgewählte | |
Justizminister [5][Robert Buckland] ausdrückt. Viele Figuren, die sich bis | |
Donnerstag noch Hoffnungen auf Sunaks Nachfolge als Parteichef machten, | |
sind jetzt selber aus dem Parlament geflogen. | |
Der scheidende Premier zieht am Freitag in seiner [6][Abschiedsrede] vor | |
der Tür von 10 Downing Street daraus die Konsequenz. Er gibt sein Amt als | |
Parteichef ab, aber erst dann, „wenn die formalen Arrangements zur Wahl | |
meines Nachfolgers eingerichtet sind“. Anders gesagt: Kein Mensch weiß, wie | |
es weitergeht. | |
## Tory-Wähler wenden sich nach rechts ab | |
Wahlbeobachtern fällt auf, dass die Schwäche der Tories gar nicht so sehr | |
Labour nützt. Von den Stimmen, die die Konservativen verlieren, gehen nur | |
ein Drittel an Labour – und zwei Drittel an die neue rechtspopulistische | |
„Reform UK“ von Nigel Farage. | |
Typisch etwa das Ergebnis im mittelenglischen [7][Nuneaton], das unter | |
Wahlforschern als repräsentativ für den Gesamttrend bei Wahlen gilt: Die | |
Konservativen stürzen von 61 auf 29 Prozent ab und verlieren den einst | |
sicheren Sitz an Labour, das sich aber bloß von 32 auf 37 Prozent | |
verbessert. Reform UK holt aus dem Stand 22 Prozent. Die Wahlbeteiligung | |
geht von 64 auf 59 Prozent zurück. | |
Fast überall ist „Reform UK“ die Partei mit den höchsten Zuwächsen. Ihr | |
Führer Nigel Farage zieht in Clacton ins Parlament ein, ebenso wie vier | |
andere Reform-UK-Kandidaten, und verspricht in seiner [8][Siegesrede], dies | |
sei „bloß der erste Schritt von etwas, was euch alle in Erstaunen versetzen | |
wird“. Seine Partei holt aus dem Stand 14 Prozent, vielerorts ist sie | |
zweitstärkste Kraft. „Wir werden die Opposition im gesamten Land sein“, | |
verkündet Farage vor Journalisten am Freitag nachmittag. | |
Ebenfalls außerordentliche Zuwächse verzeichnen die Grünen, die sich auf | |
über sechs Prozent verdreifachen und vier Sitze holen statt einem. In | |
vielen Wahlkreisen überholen sie die Liberaldemokraten. | |
Die Liberaldemokraten aber holen mit 72 Sitzen ihr bestes Ergebnis seit | |
über 100 Jahren, obwohl sie ähnlich wie Labour in Stimmen auch nur leicht | |
zulegen. Reihenweise fallen im reichen Süden Englands sichere | |
Tory-Wahlkreise, wo Labour praktisch nicht existiert, an die bürgerliche | |
Alternative. | |
Nicht zuletzt kollabiert in Schottland die bisher dominante SNP | |
(Schottische Nationalpartei); Labour räumt in Schottland ab. Von 48 Sitzen | |
vor fünf Jahren bleiben der SNP gerade mal 9, ihr Stimmanteil sinkt auf | |
unter 30 Prozent. Einst hatte die schottische SNP-Ministerpräsidentin | |
selbstbewusst die nächsten britischen Parlamentswahlen zum faktischen | |
zweiten Referendum über Schottlands Unabhängigkeit erklärt. Davon kann nun | |
keine Rede mehr sein. | |
Ohne den Durchbruch in Schottland wäre Labours Triumph deutlich schmaler. | |
In erstaunlich vielen Wahlkreisen kommt Labour bei diesem Wahltriumph nicht | |
über ihr Ergebnis beim Wahldebakel 2019 hinaus – manchmal sogar im | |
Gegenteil. Sogar in seinem eigenen Londoner Wahlkreis [9][verliert Keir | |
Starmer] 18.000 Stimmen und 17 Prozentpunkte. Im Wahlkreis nebenan setzt | |
sich sein Vorgänger [10][Jeremy Corbyn] als Unabhängiger gegen Labour | |
durch, mit Zugewinnen. In der Stadt Leicester kostet der Unmut an Teilen | |
der Labour-Basis über Gaza die Partei gleich zwei Wahlkreise. | |
Aber all das wird keine Rolle mehr spielen, wenn die Abgeordneten kommende | |
Woche ihre Büros im Westminster-Palast beziehen, wo das Unterhaus sitzt. | |
Die neue Labour-Regierung wird dann voraussichtlich am 17. Juli ihr | |
Regierungsprogramm vorstellen. Mit der Regierungsbildung hat Keir Starmer | |
gleich am Freitag nachmittag begonnen. | |
5 Jul 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://x.com/PolitlcsUK/status/1809193854496907661 | |
[2] https://www.express.co.uk/news/politics/1919431/people-do-not-vote-divided-… | |
[3] https://x.com/implausibleblog/status/1809082565644472473 | |
[4] https://x.com/GMB/status/1809102795611537856 | |
[5] https://x.com/Ian_Fraser/status/1809033010601169179 | |
[6] https://x.com/PolitlcsUK/status/1809162604318769340 | |
[7] https://x.com/zenxv/status/1809027055830409497/photo/1 | |
[8] https://x.com/GBNEWS/status/1809053333883101640 | |
[9] https://x.com/SashaClarkson/status/1809168967283413077 | |
[10] https://x.com/SashaClarkson/status/1809168967283413077 | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
## TAGS | |
Wahlen in Großbritannien | |
Keir Starmer | |
Labour Party | |
Premierminister | |
Tories | |
Großbritannien | |
Wahlen in Großbritannien | |
Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
Wahlen in Großbritannien | |
Wahlen in Großbritannien | |
Wahlen in Großbritannien | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Staatshaushalt in Großbritannien: Mehr einnehmen, mehr ausgeben | |
Großbritanniens neue Labour-Regierung präsentiert ihren ersten Haushalt. | |
Steuern und Abgaben steigen deutlich, öffentliche Investitionen aber auch. | |
Programm der Starmer-Regierung: Securonomics statt Kindergeld | |
Nach 16 Jahren Tories könnte die Starmer-Regierung ein Befreiungsschlag | |
sein. Bei der Kinderarmut setzt sie aber schon jetzt die falschen | |
Prioritäten. | |
Englands EM-Sieg: Elfmeter und Politik | |
Mit perfekten Elfmetern und Sicherheitsfußball ist England ins Halbfinale | |
eingezogen. Wer lange genug sucht, findet noch Keir-Starmer-Parallelen. | |
Wahlverlierer in Nordirland: Protestantenpartei stürzt ab | |
Die Democratic Unionist Party ist Nordirlands Wahlverliererin. Hauptgrund | |
ist der wegen Sexualdelikten angeklagte Ex-Parteichef Donaldson. | |
Machtwechsel in Großbritannien: Jubel in Rot | |
Nach einer historischen Wahlnacht herrscht in London Freude über Labours | |
Wahlsieg. Nun beginnt die harte Arbeit. | |
Labour-Wahlsieg in Großbritannien: Sieg mit Schattenseiten | |
Labour konnte die 14-jährige Vorherrschaft der Tories brechen. Ihr Erfolg | |
ist aber vielmehr Ergebnis glücklicher Umstände als eigene | |
Begeisterungskraft. |