Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Labour-Wahlsieg in Großbritannien: Sieg mit Schattenseiten
> Labour konnte die 14-jährige Vorherrschaft der Tories brechen. Ihr Erfolg
> ist aber vielmehr Ergebnis glücklicher Umstände als eigene
> Begeisterungskraft.
Bild: Glücklich: Keir Starmer nach seinem Wahlsieg
Es ist vollbracht. Großbritannien bekommt eine Labour-Regierung, 14 Jahre
konservative Herrschaft sind vorbei. [1][Labour-Führer Keir Starmer kann
triumphieren]: Nach Auszählung von 642 der 650 Wahlkreise liegt seine
Partei am Freitagmorgen bei 410 Sitzen im Unterhaus, mehr als doppelt so
viele wie bei den letzten Wahlen, und steuert auf eine gigantische absolute
Mehrheit zu.
Die Konservativen sind am Boden zerstört, nach dem größten Wahldebakel
irgendeiner Partei in der britischen Geschichte. Von 365 Sitzen bei den
Wahlen 2019 sind am Freitagmorgen gerade noch 119 übrig, viel mehr werden
es auch nicht. Mehrere Dutzend Minister und Staatsminister fliegen aus dem
Parlament, auch die Ex-Premierministerin [2][Liz Truss]. Viele andere
mussten um ihre Mandate zittern. „Sichere“ Wahlkreise gibt es für die
Tories nicht mehr.
Aber bei näherem Hinsehen entpuppt sich der Labour-Wahlsieg als ziemlich
hohl. Zum einen ist die Wahlbeteiligung mit rund 57 Prozent sehr niedrig,
nach manchen Berechnungen die niedrigste seit 100 Jahren. Zum zweiten hat
Labour selbst mit dieser niedrigen Beteiligung gerade mal rund 35 Prozent
der Stimmen erhalten.
Im Vergleich zu Labours Wahldebakel unter Jeremy Corbyn 2019 hat Labour
diesmal kaum drei Prozent dazugewonnen und die absolute Stimmenzahl könnte
sogar zurückgegangen sein. Keir Starmer selbst verlor in seinem Londoner
Wahlkreis 10.000 Stimmen und 17 Prozentpunkte, sein Ergebnis ist schlechter
als das seines Vorgängers Jeremy Corbyn, der in einem benachbarten Londoner
Wahlkreis als Unabhängiger gegen Labour antrat und siegte. Ein strahlender
Sieger sieht anders aus.
## Beihilfe durch Farage, Liberaldemokraten und Schottland
Nur weil die Konservativen auf ein historisches Tief von 24 Prozent
abstürzen, kann Labour so viele Direktmandate einheimsen. Aber von den
Stimmen, die die Konservativen verloren haben, sind nur ein Drittel an
Labour gegangen. Zwei Drittel landeten bei der neuen rechtspopulistischen
Kraft „Reform UK“ von Nigel Farage, die zwar nur vier Wahlkreise gewonnen
hat, aber in vielen anderen an zweiter Stelle liegt und fast überall die
Partei mit den höchsten Zuwächsen ist.
In vielen Labour-Hochburgen und auch vielen Sitzen, die 2019 erstmals
konservativ gewählt hatten und jetzt zurück an Labour gingen, war in der
Wahlnacht zu beobachten, wie Labour praktisch unverändert gegenüber 2019
bleibt und der Tory-Absturz durch einen Reform-Höhenflug gespiegelt wird.
Gewinner des Tory-Absturzes sind auch die Liberaldemokraten, die
reihenweise sicher begüterte konservative Wahlkreise einheimsen und mit
bislang 71 Sitzen – vor fünf Jahren waren es noch 11 – ihr bestes Ergebnis
seit über 100 Jahren einfahren, bei einem praktisch unveränderten
Stimmanteil.
Labours Wahlsieg ist auch in erheblichem Ausmaß auf Schottland
zurückzuführen. Die dort regierende Schottische Nationalpartei (SNP) ist
nur noch ein Schatten ihrer selbst im britischen Parlament. Von 48 Sitzen
bei den letzten Wahlen sind gerade einmal 8 übriggeblieben, Labour hat
Dutzende schottische Mandate dazugewonnen. Nur weil die SNP so schwach ist,
sieht Labours Parlamentsmehrheit so beeindruckend aus.
## Große Erwartungen, minimale Wahlversprechen
Die neue Labour-Regierung agiert also auf dünnem Eis und muss entsprechend
vorsichtig regieren. Das entspricht Keir Starmers Naturell, der im
Wahlkampf [3][nur minimale Wahlversprechen abgab] und sich sehr bedeckt
über mögliche weitere Vorhaben hielt. Große Visionen gab es im Wahlkampf
keine. Es wird auch danach keine geben. Labour sieht sich jetzt als
Reparaturbetrieb, der einen von den Tories an die Wand gefahrenen Staat
wieder flottmachen will.
Wird das genug sein, um die genervte Stimmung im Wahlvolk aufzufangen?
Nigel Farage steht schon bereit, um den Unmut aufzufangen, sobald Labour
die Erwartungen auf Wandel nicht wahrnehmbar erfüllt. Selten hatten bei
einer britischen Wahl die Sitzverhältnisse im Parlament so wenig mit den
Stimmungsverhältnissen im Land zu tun.
5 Jul 2024
## LINKS
[1] /Wahl-in-Grossbritannien/!6021721
[2] /Liz-Truss-in-Grossbritannien/!5876386
[3] /Wahl-in-Grossbritannien/!6017712
## AUTOREN
Dominic Johnson
## TAGS
Wahlen in Großbritannien
Großbritannien
Labour
Tories
Keir Starmer
Nigel Farage
GNS
Großbritannien
Wahlen in Großbritannien
Wahlen in Großbritannien
Schwerpunkt Brexit
Wahlen in Großbritannien
Performance
Wahlen in Großbritannien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Neuer britischer Außenminister: Gesicht der Schwarzen Arbeiterklasse
David Lammy ist der erste Außenminister aus der Karibik mit
Sklavenvergangenheit. Die Biografie des Labour-Politikers ist eine
Aufstiegsgeschichte.
Bedeutung des Labour-Wahlsiegs: Hoffnungsschimmer von der Insel
Wirren in Washington, Panik in Paris – und ein Lichtblick aus London? Die
Hoffnungen westlicher Demokraten liegen auf Keir Starmer. Aber der geht
geschwächt ins Amt.
Machtwechsel in Großbritannien: Keir Starmer wird Premierminister
Der britische Labour-Chef tritt sein Amt an, die Konservativen sind am
Boden zerstört. Aber im Detail sind die Ergebnisse durchwachsen.
Wahlverlierer in Nordirland: Protestantenpartei stürzt ab
Die Democratic Unionist Party ist Nordirlands Wahlverliererin. Hauptgrund
ist der wegen Sexualdelikten angeklagte Ex-Parteichef Donaldson.
Wahl in Großbritannien: Gigantischer Triumph für Labour
Die oppositionelle Labour-Party holt 412 der 650 Sitze im künftigen
Parlament. Damit wird Keir Starmer am Freitag neuer Premierminister.
Glastonbury-Aktion von Banksy: Das Meer sind wir
Der Künstler Banksy wird für seine Schlauchboot-Aktion kritisiert. Doch
abscheulich ist nicht seine Aktion, sondern Europas Asylpolitik.
Wahl in Großbritannien: Macht statt Aktivismus
Am 4. Juli wählt Großbritannien. Alles deutet auf einen großen Sieg der
Labour-Partei hin. Keir Starmer wird wohl der neue Premier. Was will er?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.