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# taz.de -- Sozialdemokratie in Europa: Die verblasste Erzählung der SPD
> In Großbritannien steht die Labour-Partei vor einem Wahlsieg. Was die SPD
> tun müsste, um ebenfalls ein Comeback zu feiern.
Bild: Multiple Krisen bedrohen das Aufstiegsversprechen
Der Sozialdemokratie wird mal wieder das Totenglöcklein geläutet.
Sozialdemokraten führen in Europa nur noch in ein paar Staaten Regierungen
an. Rechtspopulisten drängen mit Schwung an die Macht, die Sozialdemokraten
stehen ratlos daneben.
Ein Lichtschein in der Finsternis ist [1][die nahende Wahl in
Großbritannien, die Labour wohl triumphal gewinnen] wird. Labour-Chef Keir
Starmer hat die Partei auf einen Mitte-Kurs gezwungen. Ist das Vorzeichen
eines Umschwungs? Nach dem Sieg der Liberalen in Polen nun ein Sieg der
Linken über die Brexit-Konservativen in London? Kann die SPD davon etwas
lernen?
Die Ausgangslage ist ziemlich anders als 1997 und 1998, als Tony Blair und
Gerhard Schröder an die Macht kamen. Damals waren die britische und die
deutsche Wirtschaft zusammengenommen drei Mal so groß wie die indische und
chinesische. Heute ist das BIP von China und Indien drei Mal so groß.
Großbritannien ist nach eineinhalb Jahrzehnten Tory-Regierung in desolatem
Zustand. Die Kinderarmut ist hoch, die Kluft zwischen Reich und Arm
spektakulär. Ein deutsches Gericht hat 2023 verboten, einen Straftäter
auszuliefern – [2][die britischen Knäste seien aus humanitären Gründen
unzumutbar.] Kurzum: Labour gewinnt die Wahl nicht, die Tories verlieren
sie.
Keir Starmer ist für die SPD kein Vorbild. Er hat – Spalten statt Versöhnen
– den linken Flügel aus der Partei gemobbt, seinen Vorgänger Corbyn aus der
Fraktion geworfen und Ken Loach aus der Partei. Der ist nicht nur einer der
bedeutendsten britischen Filmregisseure – er hat auch jenen warmen,
empathischen Blick auf gewöhnliche Leute, der der Apparate-Sozialdemokratie
schmerzhaft fehlt. Loach quittierte den Rauswurf mit der süffisanten
Bemerkung, [3][Starmer wirke auf seinem Anti-links-Feldzug wie Mr. Bean,
der sich in Stalin verwandelt.]
Labour erscheint 2024 als blutarmer Technokraten-Club, der leidenschaftslos
Sachzwänge exekutiert. Ein geplantes Öko-Investitionsprogramm, das rund 35
Milliarden Euro pro Jahr kosten würden, wurde beerdigt. Starmer will
unbedingt einen schuldenfreien Haushalt – klingt bekannt. All das ist wenig
erfolgversprechend. Foreign Affairs, eher kein linkes Kampfblatt,
[4][warnt, dass Labour untergehen wird, wenn es auf Sparen und „Weiter so“
setzt.]
Trotzdem: Muss die SPD, um in Zeiten des Rechtsrucks Wahlen zu gewinnen, in
die Mitte rücken und alles Linke abstreifen? Auf diese Frage gibt es keine
richtige Antwort. Denn sie suggeriert, dass „Mitte“ und „links“ ein
Gegensatzpaar sind. Das stimmt 2024 so nicht. Um die Mitte zu erobern oder
sie wenigstens nicht zu verlieren, müssen Sozialdemokraten linke Politik
machen.
## Verlustangst in der Mitte
Dafür gibt es ein paar Gründe: Statusangst ist einer davon. Ein recht
sicherer Indikator für die Stimmung der Deutschen ist das Sparbuch. Die
Deutschen sparen weniger. 2020 legten noch 70 Prozent etwas zurück, 2023
war es nur noch jede Zweite – wegen der Inflation und steigender Mieten.
Die Reallöhne sanken 2022 um 4 Prozent, so stark wie noch nie in der
Bundesrepublik. Ein Fünftel der privaten Haushalte hatte 2023 seine
Rücklagen aufgebraucht. Auch in der sozialen Mitte ist es Usus geworden,
auszugeben, was reinkommt.
Das Phänomen der Verlustangst in der Mittelschicht ist komplex. Es geht
dabei um Geld, vor allem aber um Status – wie man sich selbst wahrnimmt und
wahrgenommen glaubt. [5][Eine Studie in Finnland hat 2022 gezeigt,] dass
nicht jene, die einen realen Statusverlust hinter sich hatten, rechtsextrem
wählen, sondern jene, die ihn befürchten. Das gilt auch für viele in der
oberen Mittelschicht, von wo der mögliche Fall besonders dramatisch
aussieht. Statusangst gehört zu den auf Konkurrenz gebauten
Marktwirtschaften wie die Rolex zu Cristiano Ronaldo. In Multikrisenzeiten
ist der Statusstress besonders heftig. Martin Wolf, Herausgeber der
Financial Times, hält die „Ökonomie der Statusunsicherheit“, die fast alle
in vibrierende Unsicherheit versetzt, für einem zentralen Grund für die
Krise des westlichen Kapitalismus.
Das grassierende Gefühl, dass man etwas verliert, ist eine Mixtur aus
übersteigerter Verlustangst und angemessener Empfindsamkeit. Im
welthistorischen Maßstab stehen wir an einer Bruchkante. Europa hat 500
Jahre den Globus geprägt und ausgebeutet. Jetzt neigt sich die Ära des
Westens als ökonomisch, politisch und kulturell vorherrschende Macht dem
Ende entgegen. Die Globalisierung schlägt zurück. Die stolze deutsche
Autoindustrie, Symbol bundesrepublikanischer Überlegenheit, kann bald dort
enden, wo die einst ruhmreiche Stahlindustrie schon lange ist.
## Verteilungskämpfe stehen an
Die Multikrisen – Ukrainekrieg, Klimawandel, Umbau der Wirtschaft – sind
nicht nur Angstbeschleuniger, sie sind auch teuer. Die russische Bedrohung
ist unkalkulierbar, der Schutz durch die USA unwägbar geworden. Europa wird
mehr für Militär ausgegeben, so bitter das ist. Der deutsche
Verteidigungsetat wird Richtung 100 Milliarden Euro jährlich und 4 Prozent
vom BIP steigen.
Gleichzeitig ist nach dem törichten Urteil des Bundesverfassungsgerichts
zum Klimatransformationsfonds offen, wie der gigantische Umbau der
Wirtschaft Richtung Klimaneutralität angeschoben werden kann. Dazu kommen
Firmenpleiten und Nullwachstum, höhere Energiepreise und politisch
motiviertes derisking im Handel mit Autokratien. Autobahnen und
Bahnstrecken weiter verrotten zu lassen ist auch keine gute Idee.
Auch wenn die Schuldenbremse irgendwann mehr oder weniger gelockert wird,
stehen Verteilungskämpfe an, die rau und heftig werden, gerade für die
bundesdeutsche Sowohl-als-auch-Konsensdemokratie. Alle spüren, dass
irgendjemand wird zahlen müssen. Entweder die Ärmeren mit einem gekürzten
Sozialetat, die Mittelschicht mit höheren Steuern oder – surprise – die
oberen zehn Prozent.
Vor dem Prospekt dieser Verteilungskämpfe muss man auch die beiden
deutschen Quasi-Gelbwesten-Aktionen 2023 lesen: den Widerstand gegen das
Heizungsgesetz und gegen die Kürzung beim Agrardiesel. Beides waren zum
Teil irrationale, angstgetriebene und von Rechten und Lobbygruppen gepushte
Kampagnen. Aber sie hatten auch einen rationalen Kern: Wir (Bauern,
Fuhrunternehmer, Hausbesitzer – die Reihe wird noch länger werden) werden
angesichts von Inflation und Reallohnverlusten diese Krisen nicht bezahlen.
Es reicht nicht, den Anti-Eliten- und Angst-Diskurs der AfD irrwitzig zu
finden (was er ist), man muss verstehen, warum er funktioniert.
Hat die SPD darauf Antworten? Schemenhaft. Immerhin scheint die Partei nach
der Niederlage bei der Europawahl wach geworden zu sein und zu begreifen,
dass die Hoffnung, dass Merz noch unbeliebter ist als Scholz, noch keine
Strategie ist. [6][Dass die SPD flügelübergreifend eine Lockerung der
Schuldenbremse fordert und den Sozialstaat verteidigt,] ist erfreulich –
aber nicht genug.
Für die Kämpfe, die nun beschworen werden, ist die Partei nur bedingt
gerüstet. Die SPD ist eine alternde, schrumpfende Partei, dominiert vom
öffentlichen Dienst. Ein Malus ist, dass zu viel vom Kanzler abhängt und es
kaum andere Stimmen gibt. Saskia Esken redet wie Scholz, Kevin Kühnert, der
sich im Eiltempo vom Rebellen zum Parteisoldaten verwandelt hat, wie Lars
Klingbeil. Die vielstimmige SPD, die vom knorrigen Gewerkschafter bis zum
feinsinnigen bürgerlichen Intellektuellen reichte, ist Vergangenheit. Auf
der Habenseite steht, dass die SPD, anders als die Milieupartei Grüne, als
kommunal fest verankerte Organisation und Ex-Volkspartei noch immer
Antennen in verschiedene Milieus hat und deren Stimmungen nicht erst aus
Boulevardzeitungen erfährt.
## Eine sinnstiftende Erzählung fehlt
Allerdings fehlt der SPD etwas Entscheidendes, um die depressiven
Zukunftserwartungen – Krieg in der Ukraine, Klimakatastrophe und
Statuspanik – zu kontern: eine überwölbende, sinnstiftende Erzählung. Die
Grünen haben als Klimarettungsakteur ein strapazierfähiges, verbindliches
Narrativ. Die Rechtspopulisten bieten das Völkische als regressives
Sinnangebot. Das Narrativ der Sozialdemokraten – kollektive Solidarität und
individueller Aufstieg – wirkt in Westeuropa aus vielen Gründen blass und
ausgewaschen.
Die Individualisierung hat die Idee und Praxis des Kollektiven geschwächt.
Dass Blair und Schröder vor 25 Jahren den Neoliberalismus umarmten, hat den
Verfall beschleunigt. Pragmatisch und nicht besonders korrupt zu regieren
mögen erfreuliche Eigenschaften sein – aber sie wärmen nicht. Ideen und
Bilder, wie es besser werden kann, könnten Statusstress und die
angstgetriebene Retro-Sehnsucht nach Gestern kontern und dämpfen. Doch die
grundpragmatische, intellektuell genügsame, ideenarme SPD produziert keine
Visionen mehr.
Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt hat kürzlich schnittig einen „Populismus
der Mitte“ angekündigt. Für die vielen, und jenseits der Berliner
Politblasen. Das könnte funktionieren, wenn „Populismus der Mitte“ nicht
wie bei Sigmar Gabriel eine funkelnde Idee ist, an die sich in zwei Wochen
niemand mehr erinnern kann.
Das könnte klappen, wenn die SPD damit nicht meint, die „hart arbeitende
Mitte“ gegen Bürgergeldempfänger auszuspielen, wie es die Rechte derzeit
tut. Das könnte klappen, wenn die SPD-Fraktion im Juli nicht
zähneknirschend einen Sparhaushalt durchwinkt, der die nächste
Gelbwesten-Revolte auslöst. Das könnte klappen, wenn Politik für die Mitte
endlich effektive Mietbegrenzungen und (linke) Umverteilungspolitik meint –
nicht um antikapitalistische Siege zu feiern, sondern um den demokratischen
Kapitalismus vor seinen eigenen Dämonen zu retten.
Wenn die SPD die Statusängste der Mitte einhegen will, muss sie sich in den
Verteilungskämpfen auch mit den Eliten anlegen, die in jeder Krise reicher
geworden sind. Denn wenn die soziale Mitte Aufrüstung, Erhalt des
Sozialstaates und Klima-Umbau bezahlen soll, werden die Statusängste weiter
wachsen.
Wer da nach Vorbildern oder Inspirationen sucht, wird nicht in
Großbritannien fündig. Sondern eher in Österreich. Dort [7][verbindet der
Sozialist Andi Babler,] ein linker, erdverbundener Provinzpolitiker,
jenseits der ideologischen Trampelpfade Normalität mit Emanzipation. Und
zeigt, dass Mitte und links zusammen funktionieren.
2 Jul 2024
## LINKS
[1] /Neuwahlen-in-Grossbritannien/!6012392
[2] https://www.fr.de/politik/auslieferung-grossbritannien-england-gefaengnis-h…
[3] https://www.jacobin.de/artikel/ken-loach-labour-jeremy-corbyn-keir-starmer-…
[4] https://www.foreignaffairs.com/united-kingdom/dont-bet-british-revival
[5] https://www.cambridge.org/core/journals/european-political-science-review/a…
[6] https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/spd-fraktionsfluegel-fordern…
[7] /Erbauliche-Nachrichten-aus-Oesterreich/!5928561
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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Labour Party
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