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# taz.de -- Machtwechsel in Großbritannien in Sicht: „Labour ist klar auf Si…
> 1997 fuhr Labour in Großbritannien einen historischen Sieg ein. Der
> Politologe Patrick Diamond über Parallelen zwischen Keir Starmer und Tony
> Blair.
Bild: Tony Blair im Wahlkampf 1997, bevor er die haushohe absolute Mehrheit hol…
taz: Herr Professor Diamond, die britische Labour-Opposition hat bei
Nachwahlen zum Parlament vergangene Woche wieder einmal zwei konservative
Wahlkreise überzeugend gewonnen. Ist nun endgültig sicher, dass Labour die
nächsten Wahlen in Großbritannien gewinnen und die nächste Regierung
stellen wird?
Patrick Diamond: Die [1][Ergebnisse in Kingswood und Wellingborough]
beweisen ganz klar, dass Labour auf Siegeskurs ist. Die Unbeliebtheit der
Konservativen ist fast beispiellos, getrieben von der Überzeugung, dass sie
der Wirtschaft geschadet haben. Labour ist innenpolitisch sehr stark
aufgestellt.
In allen Umfragen liegt Labour aktuell so weit vorn wie unter Tony Blair
vor dem großen Labour-Sieg 1997. Sie sind Experte für die Blair-Jahre. Wie
war das damals?
1997, das war zum Teil ein Sieg Labours, zum Teil eine Niederlage der
Konservativen. Die Regierung des damaligen Premierministers John Major war
unpopulär, obwohl es der britischen Wirtschaft eigentlich recht gut ging.
Als „New Labour“ war Labour gleichzeitig beliebter als jemals zuvor in
ihrer Geschichte.
Gibt es also Ähnlichkeiten zwischen heute und damals?
Ich weiß, dass sich viele heute fragen, ob wir einen politischen Erdrutsch
wie 1997 erwarten können. Heute muss sich Labour aber anders als damals von
der größten Niederlage seit den 1930er Jahren erholen, die sie bei den
Wahlen 2019 einfuhr. Um jetzt zu gewinnen, muss Labour in umkämpften
Wahlkreisen bei Wechselwählern punkten, für die es nicht selbstverständlich
ist, Labour zu wählen. Die Sensibilität dieser Wähler liegt bei Fragen der
Steuern und der Wirtschaftspolitik. Starmer ist hier sehr vorsichtig, so
wie Blair damals auch.
Gibt es auch Unterschiede?
In gewisser Weise ist Starmer in Sachen Wirtschaft radikaler als Blair,
solange er den nötigen Spielraum hat. Zu beachten sind aber auch
außenpolitische Herausforderungen wie der Brexit und aktuell der
Nahostkonflikt. Die nächste Nachwahl steht am 29. Februar in Rochdale an,
und da musste Labour sich [2][wegen Anschuldigungen des Antisemitismus von
seinem Kandidaten lossagen]. Die Partei erscheint gespalten zwischen
proisraelischen und propalästinensischen Standpunkten, aber die
Wählerschaft insgesamt tendiert zu einer differenzierteren Haltung. Labour
tut sich schwer damit, in diesem Punkt die landesweite Stimmung zu treffen.
Auch die wirtschaftliche Lage ist anders als früher …
Ja. Vor 1997 verbesserte sich die Wirtschaft, auch wenn sie nicht schnell
wuchs. In den ersten drei Jahren nach dem Labour-Sieg begann die Wirtschaft
jedoch sehr schnell zu wachsen. Labour nutzte dies, um in öffentliche
Dienstleistungen zu investieren, ohne die Steuern drastisch erhöhen zu
müssen. Großbritannien befand sich in den 80er und 90er Jahren in einen
Übergang zu einer wissensbasierten Wirtschaft, gestützt auf den
Finanzsektor. Blair und sein Finanzminister Gordon Brown beschleunigten das
noch. Das war zwar zunächst erfolgreich, aber längerfristig und
insbesondere in Anbetracht der Finanzkrise von 2008 ist es auch zu
hinterfragen. Heute ist zu bedenken, dass die Londoner City durch den
Brexit bereits Vorteile verloren hat. Weitere große Fragen, die auch der
Brexit amplifiziert hat, sind die abgehängten Regionen, denen es in den
letzten 30 oder 40 Jahren wirtschaftlich nicht gut gegangen ist. Labour
unter Starmer muss für ein widerstandsfähigeres wirtschaftliches Rückgrat
sorgen. Das war 1997 eigentlich kein Thema.
Als New Labour damals auftauchte, gab es darüber ein Unbehagen im linken
Flügel der Partei. Starmer hat seine eigenen linken Kritiker:innen. Sind
das wichtige Faktoren?
Das große Problem ist die Art, wie Starmer Parteichef wurde. Als er im Jahr
2020 gewählt wurde, war Jeremy Corbyn fünf Jahre lang Parteichef gewesen
und hatte Labour verändert. Starmers Dilemma war, dass er wusste, dass
Labour mit Corbyns Programm keine Wahl gewinnen kann – aber um an die
Spitze zu gelangen, musste er Sympathie für Teile der Corbyn-Programmatik
bezeugen. Im Laufe der Zeit [3][entfernte er sich dann vom Corbyn-Projekt],
was zu Vorwürfen des Verrats führte. Innerhalb der Partei hat das zu
Konflikten geführt und Starmers Position manchmal etwas unbequem gemacht.
Das ist derzeit besonders in der Nahostpolitik wichtig, wo offensichtlich
die Ansicht vertreten wird, dass Starmer zu proisraelisch sei. Es stellt
sich insgesamt die Frage, wie Starmer mit dem Erbe von Corbyn umgeht.
Lässt sich die außenpolitische Lage mit 1997 vergleichen?
1997 war das globale Umfeld für Blair eher freundlich. Nach dem Fall der
Mauer war ein Gefühl verbreitet, dass sich die Welt in Richtung Demokratie
bewege. Bill Clinton saß im Weißen Haus, 13 der damals 15
EU-Mitgliedstaaten hatten sozialdemokratische Regierungen. Starmer steht
vor einer ganz anderen Situation, mit Rechtspopulisten an der Macht in
Teilen Europas und Sozialdemokraten in keiner starken Position. Dazu kommt
die Frage, was passiert, falls Donald Trump die Präsidentschaftswahl der
USA gewinnt. Für Keir Starmer besteht das Risiko, dass er Großbritannien in
einer Position regieren muss, in der er sich sehr isoliert fühlt, weil er
nicht in der EU ist. Ich denke, das wird ihn dazu bringen, sich für die
Notwendigkeit einer vertieften Partnerschaft mit der EU auszusprechen.
Keir Starmer gilt als langweilig. Tony Blair galt als charismatisch. Zieht
Großbritannien angesichts von Tony Blair und Boris Johnson tatsächlich
Charisma vor?
Charisma kann wichtig sein, weil es um Projektion geht. Starmers Hoffnung
ist es, dass die Menschen nicht nach eleganter oder dramatischer Rhetorik
oder großen Gesten suchen, sondern nach Stabilität und Führungskompetenz.
Starmer betont gern, dass er einst Generalstaatsanwalt war. Er weiß, wie
man Dinge zum Funktionieren bringt. Das gibt ihm natürlich auch den Ruf,
Technokrat zu sein. Aber ich denke, Starmer wird davon ausgehen, dass die
Bevölkerung diese Werte schätzen. Historisch vergleicht sich Starmer
weniger mit Blair, eher mit Clement Attlee, der als
Labour-Nachkriegspremier ab 1945 den britischen Sozialstaat erschuf und
einen Großteil des Nachkriegskonsenses. Attlee war kein charismatischer
Anführer, sondern eine sehr ruhige, zurückhaltende Figur, der sein Team
dazu brachte, Ergebnisse zu liefern und schnelle Fortschritte zu machen.
Starmer wird versuchen, dasselbe zu bieten, weil es die Menschen seiner
Meinung heute nach Jahren der Instabilität fordern.
20 Feb 2024
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## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
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