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# taz.de -- Linke gegen Linke in Großbritannien: „Corbyn hat keine Fehler ge…
> Labours Ex-Parteichef Jeremy Corbyn tritt bei Großbritanniens Neuwahlen
> erneut an – gegen seine alte Partei. Ein Ortsbesuch bei seinen
> Stammwählern.
Bild: Jeremy Corbyn mit Fans nach dem Einreichen seiner Kandidatur für Islingt…
London taz | Eigentlich wird Fondhill Road in der Nähe des Nordlondoner
Bahnhofs Finsbury Park von Menschen aufgesucht, die nach Hochzeitskleidern
suchen. Die Läden heißen „New Girl“, „Cinderella“ und „Bridal Origi…
und die Glitzerware stammt aus Bangladesch, Indien oder der Türkei.
Doch dieser Tage tragen die Besucher des „London Fashion Centre“
Sweatshirts, Jeans und Second-Hand-Klamotten, manche auch eine Kefiyah. Sie
wollen gar keine Kleider kaufen. Sie gehen in den ersten Stock, wo ein
freundlicher Mann im Gewerkschafts-T-Shirt die Besucher begrüßt. Das Büro
gehört einer Stiftung zur Unterstützung britischer Strafgefangener, doch
bis zum 4. Juli befindet sich hier das Wahlkampfbüro von [1][Jeremy
Corbyn].
Der inzwischen 75-Jährige, Galionsfigur der Labour-Linken und bei den
beiden letzten britischen Wahlen 2017 und 2019 als Labour-Parteichef
Anwärter auf das Amt des Premierministers, kandidiert bei Großbritanniens
Neuwahlen am 4. Juli erneut in seinem Wahlkreis [2][Islington North], den
er seit 1983 im Unterhaus vertritt. Aber er kandidiert nicht mehr für
Labour, sondern gegen Labour.
Nachdem sein Nachfolger Keir Stamer ihn erst aus der Parlamentsfraktion
ausschloss, nachdem die britische Menschenrechtskommission 2020 [3][einen
vernichtenden Untersuchungsbericht] über die Duldung von Antisemitismus bei
Labour unter Corbyns Führung veröffentlichte und ihn dann nicht mehr zur
Wiederwahl aufstellte, kündigte Corbyn seine Kandidatur als Unabhängiger im
eigenen Namen an. Das beendete automatisch seine lebenslange Mitgliedschaft
bei der Labour Party.
## 33jähriger Labour-Kandidat gegen den 75jährigen Corbyn
Für Labour tritt jetzt in Islington North der junge Unternehmer [4][Praful
Nargund] an. Er ist 33, so alt wie Corbyn bei seiner ersten Wahl ins
Parlament 1983. Er ist bereits Labour-Gemeinderat und betreibt mit seiner
Mutter Kliniken zur künstlichen Befruchtung. Auf seiner Internetseite
beschreibt er sich als eine Person, die sich für sozial gerechten Zugang
zur IVF-Behandlung einsetze. Bisher scheint er größere Interviews vermieden
zu haben. Sein Name ist auf der Straße kaum bekannt. Spricht man mit
Wähler*innen, geht es immer nur darum, ob man wieder Corbyn wählen soll
oder nicht.
Beim unangemeldeten Besuch in Corbyns Wahlkampfbüro ist Corbyn selber
gerade nicht da. Eine junge Frau, die dort aushilft, ist bereit, mit der
taz zu sprechen – aber nur draußen und anonym. Sie ist eine Studentin und
schwärmt von Corbyn. Er habe sich immer für Dinge vor Ort eingesetzt,
beginnt sie und nennt als Beispiel das örtliche Krankenhaus. Corbyn stehe
außerdem für grüne Investitionen. „Eine Stimme für Corbyn ist eine Stimme
für uns alle, anders als eine Stimme für Labour oder die Konservativen.“
Sie ist sauer auf die Labour-Führung, weil Starmer den Kreisverbänden nicht
erlaube, Kandidat:innen selber zu bestimmen. „Damit ignoriert Labour
riesige Bevölkerungsschichten“, behauptet sie.
Glaubt sie denn nicht, dass Corbyn selber etwas falsch gemacht habe? Sie
versteht, worauf die Frage gerichtet ist, und antwortet, dass Corbyn ein
Antirassist sei. Es sei wegen seines Einsatzes für Palästina und gegen
Zionismus „unter die Räder gekommen“, wie sie es ausdrückt. Israel ist f�…
die Corbyn-Enthusiastin ein Kolonialstaat ohne Existenzberechtigung, weil
er nur Jüdinnen und Juden vertrete.
## Gewohnt große Worte- auch ohne Partei
In einem Wahlkampfvideo nennt Corbyn einige seiner Errungenschaften: die
Verhinderung einer Autobahn durch Islington, Schaffung eines Parks, Bau von
Sozialwohnungen. Sein Ausschluss aus der Labour-Kandidatur habe die gesamte
Community entmachtet. „Wir müssen aufstehen und sagen, dass wir das nicht
mehr akzeptieren, und auf unseren Rechte beharren“, erklärt er zu seiner
Kandidatur als Unabhängiger. Dann spricht er, als ob er noch Labourchef
wäre, von großen Plänen: Umverteilung des Reichtums, Verstaatlichung von
Wasser, Post und Strom, Kontrollen des privaten Mietsektors.
Überschätzt er sich da nicht als Kandidat ohne Partei? Corbyn sagt zu
solchen Fragen immer in gewohnt großen Worten, seine Stimme solle den
Premierminister zur Verantwortung ziehen, egal wer das ist. Es gehe
schließlich um fundamentale Menschlichkeit und den Kampf für Frieden,
Demokratie und soziale Gleichberechtigung.
Dem vollbärtigen Labourmitglied Ahmed (Name geändert), 74, gefallen solche
Worte. Er wird Corbyn wählen, auch wenn er damit gegen seine Parteiregeln
verstößt, sagt er. Der Mann im weißen Gewand bezeichnet sich als einstiger
bangladeschischer Freiheitskämpfer und vor seiner Haustür in der
viktorianischen Reihenhaussiedlung in einer Straße, die auch noch Corbyn
Street heißt, leiert er gestikulierend eine ganze Liste von Eigenschaften
Corbyns herunter: hervorragend, prinzipientreu, glaubwürdig, ernst,
ehrlich.
## Eine Frage der Definition
„Es ist eine Schande, was Labour mit Corbyn machte“, findet er. „Es ist
nicht wegen dem Antisemitismus gewesen, sondern weil er vom linken Flügel
der Partei ist.“ Er sei zwar weiter für Labour, aber diesmal nehme er eben
das Risiko in Kauf, Corbyn zu wählen, in der Hoffnung, dass selbst wenn
Corbyn in Islington North gewinnt, Labour trotzdem landesweit genug Stimmen
hat.
Ein etwa 60 Jahre alter schwarzer Mann mit langen Dreadlocks will ebenfalls
Corbyn wählen. An seinem Fenster hängt das Wahlplakat „Wählt Corbyn, eine
unabhängige Simme für uns alle“ auf Labour-rotem Hintergrund. „Corbyn
spricht vom Elend der Palästinenser“, erklärt er. „Nein, Corbyn hat keine
Fehler gemacht. Es hängt doch alles davon ab, wie man Antisemitismus
überhaupt definiert. Und überhaupt, Juden dienten unter den Nazis im
Zweiten Weltkrieg und waren sogar im Ku-Klux-Klan“, verkündet er weiter.
Als die taz diese Bemerkungen hinterfragt, will er seinen Namen nicht mehr
nennen.
Im Café der Grünanlage Elthorne Park erzählen Thomas und Jane, beide über
70 Jahre alt, dass Corbyn sich einsetze, im Wahlkreis hart arbeite und
dafür einen gute Rufe habe. „Man begegnet ihm hier oft auf der Straße“,
sagt er.
Auch andere nennen die Sichtbarkeit des Politikers als positives Attribut.
Der 50-jährige Finanz-Tech-Experte Terry hebt Corbyns nicht so gepflegtes
Aussehen als Zeichen höherer Glaubwürdigkeit hervor, gegenüber
geschniegelten Politikern in Anzügen. Seine Weltsicht teile er nicht, aber
er werde ihn wieder wählen, wegen seiner Arbeit für die Menschen.
## „Hängen gebliebener Altkommunist“
Auf der anderen Seite der mehrspurigen Hauptstraße, die den Wahlkreis in
zwei Hälften teilt, stößt man auf mehr Labour-Wähler:innen.
Tech-Assistentin Zoe Rouen, 38, auf Gassitour mit Hund, sowie Denise
Sengal, 49, mit Kind auf dem Nachhauseweg vom Kindergarten, sprechen
unabhängig voneinander von der Notwendigkeit einer Labour-Regierung für
eine ausgeglichenere Gesellschaft. Corbyn sei nicht Labour und Labour müsse
gewinnen, damit die Tories geschlagen werden können, sagen sie.
Janet, pensionierte Lehrerin, sagt vor ihrer Haustür mit gelben
Gummihandschuhen, dass sie kommunal grün wählt, für das Parlament aber zu
Labour hält. Und Corbyn? „Er hat einige gute Ideen, aber er ist ein
eigensinniger Mann, der nicht in der Lage ist, mit anderen
zusammenzuarbeiten, weil er keine Kompromisse eingehen will“, sagt sie.
Nicht mal beim Brexit-Referendum sei er bereit gewesen, sich der
Pro-EU-Mehrheit der Labourmitglieder anzuschließen.
Auch die 61 Jahre alte Künstlerin Nicole und ihr Nachbar Alan Sutton, der
sich als Sozialist beschreibt, werden Corbyn nicht wählen. „In den 1980er
Jahren, als ich jung war, fand ich sein Gegendenken noch interessant, doch
seine spätere Parteiführung war katastrophal“, erinnert sich Nicole. „Er
vertrat immer nur einzig seine Ansichten und jetzt als unabhängiger
Kandidat erst recht.“ Sie kritisiert seine Sicht auf den Nahostkonflikt:
„Hamas griff am 7. Oktober friedensbereite linke Kibbuze und junge Menschen
auf einem utopischen Musikfest an. Corbyn beschrieb Hamas einst als
Freunde.“
Sutton findet, Corbyn sei ein in den 1960er Jahren hängen gebliebener
Altkommunist. „Er will Russland nicht einmal für den Angriff auf die
Ukraine verurteilen und sagt immer noch Nein zur Nato, selbst jetzt, wo
Finnland und Schweden für die Mitgliedschaft stimmten.“
## „Ich werde auch diesmal konservativ wählen“
Es gibt auch Menschen, die weder Corbyn noch Labour wählen wollen. Beim
Gießen seiner Gartenpflanzen erklärt der 78-jährige Rentner Oliver Martin,
78, er wähle die Konservativen. Früher ein Labour-Unterstützer, wählte er
2019 Boris Johnson. „Ich werde auch diesmal konservativ wählen“, sagt er.
„Starmer spricht mich nicht an, und Rishi Sunak hat doch inzwischen
gezeigt, dass er Versprechen halten kann.“
Er versteht auch nicht, dass Jeremy Corbyn nicht für Labour antreten darf,
seine Parteifreundin [5][Diane Abbott] im benachbarten Wahlkreis
[6][Hackney North] aber doch, obwohl sie Corbyns Ansichten teilt.
2019 gewann Corbyn, damals noch als Labourkandidat, den Wahlkreis Islington
North mit 64 Prozent der Stimmen, 2017 waren es sogar 73 Prozent. Diese
Wahl wird das ultimative Urteil linksorientierter Londoner:innen über
den ehemaligen Labourchef.
16 Jun 2024
## LINKS
[1] https://jeremycorbyn.org.uk/
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Islington_North_(UK_Parliament_constituency)
[3] https://www.equalityhumanrights.com/sites/default/files/investigation-into-…
[4] https://www.prafulnargund.co.uk/
[5] https://en.wikipedia.org/wiki/Diane_Abbott
[6] https://en.wikipedia.org/wiki/Hackney_North_and_Stoke_Newington_(UK_Parliam…
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
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Großbritannien
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