# taz.de -- England vor der Männer-EM: 58 Jahre Schmerz | |
> Seit 1966 wartet England auf einen Titel. Diesmal könnte es wirklich | |
> klappen. Ein Blick auf die Favoriten zeigt: Einfache Prognosen gibt es | |
> nicht. | |
Bild: Auch ein Sexy Rodent Man? Torjäger Harry Kane | |
BERLIN taz | Gäbe es die Möglichkeit, sich nach Gutdünken ein Nationalteam | |
zusammenzukaufen, es könnte ein Ensemble entstehen, das der englischen | |
Auswahl sehr ähneln würde. Mit Jude Bellingham, Phil Foden, Bukayo Saca und | |
Declan Rice verfügt Trainer Gareth Southgate über vier Offensivspieler, | |
deren aktueller Marktwert die Marke von 100 Millionen Euro übersteigt. Für | |
welchen Vereinsmanager wäre es nicht ein Traum, diese vier in einem Team zu | |
vereinen? | |
Dazu haben sie mit Harry Kane einen in den Reihen, dem viele zutrauen, die | |
meisten Tore bei der EM zu erzielen. Kein Wunder also, dass die | |
Wettanbieter die Engländer in einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Franzosen | |
sehen, wer am wahrscheinlichsten das Turnier gewinnen wird. [1][Es wäre der | |
erste EM-Titel für England überhaupt]. Doch nicht viel weniger wird in der | |
Heimat erwartet. Southgate erklärte vorab dazu: „Wenn wir nicht gewinnen, | |
werde ich wahrscheinlich nicht mehr hier sein. Dann war es vielleicht die | |
letzte Chance.“ | |
Dabei hätte Southgate in der Defensive dringenden Verstärkungsbedarf. | |
Weshalb es zugleich einiger Zuversicht bedarf, um sich bei einer Prognose | |
auf England festzulegen. Die Alltagsgesetze des Fußballs, dass das Kapital | |
bestimmt, wer sich Favorit nennen darf, sind bei einer Europameisterschaft | |
außer Kraft gesetzt. Das hat einen großen Reiz, weil eines der größten | |
Versprechen des Fußballs, die Unberechenbarkeit des Spielausgangs, in | |
diesem Rahmen eingelöst wird. Gut organisierte, lauf- und kampfstarke Teams | |
können Auswahlmannschaften, die mit unverhältnismäßig großem individuellen | |
Talent gesegnet sind, die Stirn bieten. | |
Das ist wohl der Grund, weshalb Frankreichs Trainer Didier Deschamps | |
geradezu obsessiv auch seinen begnadeten Fußballern wie Antoine Griezmann, | |
Ousmane Dembélé oder Kylian Mbappé taktische Fesseln anlegt. Wie schön und | |
innovativ, denken sich die Beobachter seit Jahren, könnte man mit diesem | |
Kader, der ausbalancierter besetzt ist als der englische, Fußball spielen. | |
Der Erfolg (Weltmeister 2018, [2][Vize-Weltmeister 2022]) gibt indes dem | |
Pragmatiker Deschamps recht. Länderturniere und schöner Fußball, das passt | |
nur selten zusammen. Dieser Minimalismus lässt das französische Team | |
allerdings verwundbar erscheinen. | |
## Vom Wert des Heimvorteils | |
[3][Individuelle Klasse ist auch beim deutschen Team vorhanden], aber das, | |
was die DFB-Elf stets zu einem der Titelkandidaten gemacht hat, ist ihr | |
abhanden gekommen: unter Turnierdruck performen zu können. Bei der | |
vergangenen EM war schon in der ersten K.-o.-Runde Schluss, bei den beiden | |
Weltmeisterschaften zuvor kam man nicht einmal so weit. Dass das Team | |
dennoch in den Erwartungen vieler Experten Titelkandidat Nr. 3 ist, hat | |
viel mit dem Heimvorteil zu tun. Kurios, wenn man bedenkt, dass bei einer | |
EM das letzte Mal vor 40 Jahren (Frankreich) der Heimvorteil für das große | |
Ziel von Nutzen war. | |
Je mehr Kriterien ins Spiel gebracht werden, desto größer wird der | |
Kandidatenkreis. Portugal, das sich längst aus der Abhängigkeit von Ronaldo | |
gelöst hat und einen guten Mix aus erfahrenen und innovativen Kräften | |
aufweist, hat doch die beste EM-Qualifikation gespielt. Der ewige | |
Geheimfavorit Belgien ist, seitdem Domenico Tedesco das Traineramt vor | |
anderthalb Jahren übernahm, in bester Form und in 14 Spielen nicht ein Mal | |
bezwungen worden. [4][Der neue Geheimfavorit Österreich] verlor in den | |
letzten 16 Spielen nur ein Mal und wirkt mit dem typischen Rangnickschen | |
Pressing- und Umschaltspiel so aufeinander abgestimmt wie kaum ein anderes | |
Team. | |
Bloß nicht vergessen sollte man all die Teams, die allein durch den Ruhm | |
der Vergangenheit als verdächtig gelten, wieder den Pokal in die Höhe zu | |
recken. Titelverteidiger Italien gehörte schon bei der letzten EM nur | |
deshalb zum erweiterten Favoritenkreis und gewann prompt. Spanien ist noch | |
immer von diesem Monopolstreben nach Ballbesitz angetrieben, der die Gegner | |
einst bei den Turnieren zu Statisten werden ließ, und hat mit Rodri den | |
vielleicht größten Fußballer dieser EM in seinen Reihen. | |
Es ist keineswegs einfacher geworden, eine Orientierung in der europäischen | |
Bestenliste der Nationalteams zu geben. Egal, der spätere Weltmeister Lukas | |
Podolski hat 2006, als nur noch europäische Teams im WM-Halbfinale in | |
Deutschland standen, lakonisch eine Erfahrung zum Besten gegeben, die auch | |
aktuell als Prognose taugt: „So ist Fußball, manchmal gewinnt der Bessere.“ | |
15 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Johannes Kopp | |
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