# taz.de -- Die Wahrheit: Gute Nacht für Jürgen Habermas | |
> Wie es einmal kam, dass ich mich telefonisch mit dem Philosophieurgestein | |
> Habermas verband – lange Jahre vor seinem aktuell 95. Geburtstag. | |
Bild: Auftritt im Zwielicht: das bedauernswerte Zitiermonster | |
Am heutigen Dienstag feiern wir den wohlverdienten 95. Geburtstag des | |
Philosophen Jürgen Habermas, und bei der Gelegenheit fällt mir eine | |
Begebenheit wieder ein, die nun schon viele Jahre zurückliegt. Sie spielt | |
während meiner Studentenzeit. | |
Ein Freund von mir stand damals mit seinem Publizistikseminar vor dem | |
Problem, sich nicht über die Auslegung eines Teilbestandteils einer | |
Habermas’schen Theorie einig werden zu können. Die Erörterungen dauerten | |
wohl schon seit einiger Zeit an, als besagter Freund mir eines Abends das | |
Problem darlegte. Ich habe keinen Schimmer mehr, was genau eigentlich das | |
Problem war, es ist, wie gesagt, etliche Jahre her. | |
Aber so weit ich mich noch erinnern kann, ging es um anderthalb oder zwei | |
Sätze von Habermas, die des Freundes Seminar in zwei heftig miteinander | |
diskutierende Deutungsgruppen spalteten. Ich konnte aus eigener Kraft an | |
dem Abend jedenfalls auch nicht entscheiden, wie Herr Habermas die | |
umstrittenen Sätze jetzt gemeint haben könnte und schlug deshalb vor, den | |
Philosophen anzurufen, um ihn zu fragen. | |
Der Freund fand die Idee lächerlich und hielt mir entgegen, wir hätten ja | |
nicht mal die Telefonnummer des gelehrten Mannes. Doch ich wusste, dass | |
Herr Habermas in Frankfurt am Main wohnte, rief die Auskunft an und | |
erläuterte mein Begehr. Die Dame am anderen Ende zickte kein bisschen herum | |
und gab mir sofort die Nummer von Jürgen Habermas, der als einziger | |
Teilnehmer diesen Namens in Frankfurt registriert war. | |
Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass es sonst wirklich nicht meine | |
Art ist, abends gegen zehn Uhr wildfremde ältere Herren anzurufen, doch wir | |
waren jung und brauchten die Info. | |
## Habermas meldete sich nach einigen Freizeichen | |
Ich wählte die Nummer und nach nur sieben oder acht Freizeichen meldete | |
sich auch ein Herr. Um sicherzustellen, dass er auch der Richtige war, | |
fragte ich ihn: „Sind Sie der Jürgen Habermas? Der berühmte Philosoph?“ | |
Herr Habermas antwortete: „Ja.“ Dann trug ich ihm das Problem des | |
gespaltenen Seminars und der nicht ganz verstandenen Sätze vor und fragte | |
ihn sinngemäß: „Haben Sie das denn so oder so gemeint?“ | |
Was ich ihn im Wortlaut genau gefragt habe, weiß ich selbstverständlich | |
nicht mehr, aber ich weiß noch wortwörtlich, was Jürgen Habermas | |
geantwortet hat. Er sagte freundlich: „Ich meinte tatsächlich Letzteres. | |
Und jetzt möchte ich bitte weiterschlafen.“ Ich entschuldigte mich für die | |
Störung und wünschte ihm noch eine gute Nacht. | |
Nun war das Problem gelöst. Der Freund erzählte die Geschichte am nächsten | |
Tag im Seminar – mit der kleinen Unwahrheit, dass er selbst es gewesen sei, | |
der den Philosophen angerufen und nach der Lösung gefragt habe – und löste | |
damit Begeisterung aus. Allerdings befürchte ich, dass Herr Habermas durch | |
die Aktion noch einiges an Verdruss hatte, denn der Freund berichtete | |
später, der Philosoph sei jetzt bei der Auskunft nicht mehr eingetragen und | |
unter der bekannten Nummer nicht mehr zu erreichen. | |
18 Jun 2024 | |
## AUTOREN | |
Corinna Stegemann | |
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