| # taz.de -- Kita-Streik in Berlin: Allein mit 15 Kindern | |
| > Erzieher*innen der landeseigenen Kitas fordern vom Senat bessere | |
| > Arbeitsbedingungen. Am Donnerstag streiken sie wieder. | |
| Bild: Wortspiel mit Finanzsenator: Beim Kita-Streik fordern Erzieher*innen Verh… | |
| Berlin taz | Es ist Freitagmorgen in einer kommunalen Kita im Berliner | |
| Süden. Ein kleines Mädchen mit wachen Augen springt in den Raum und begrüßt | |
| die Erzieherin mit einer festen Umarmung. Beim Lachen zeigen sich Grübchen | |
| in ihren Wangen. Die Erzieherin, die für diesen Text Nina Schröder heißen | |
| soll, spricht mit der Kleinen, aber sie antwortet nicht. Sie spricht kein | |
| Deutsch. Im nächsten Augenblick wird Nina woanders gebraucht: Ein kleiner | |
| Junge weint schon beim Bringen an der Eingangstür. Nina nimmt ihn auf den | |
| Arm. „Mama kommt nach dem Schlafen, okay?“, beruhigt sie ihn. Es dauert ein | |
| paar Minuten, bis die Erzieherin zum Essenswagen hinten im Raum zurückgehen | |
| kann. Dort war sie gerade dabei, das Frühstück vorzubereiten. | |
| In den vergangenen zwei Wochen wurden die 282 landeseigenen Kitas für | |
| insgesamt vier Tage bestreikt. Die Gewerkschaft Verdi hatte zum Streik | |
| aufgerufen, [1][um den Senat an den Verhandlungstisch für einen | |
| Tarifvertrag „Pädagogische Qualität und Entlastung“ zu bringen]. Laut Ver… | |
| beteiligten sich täglich 3.000 Erzieher*innen an dem Streik, zwei | |
| Drittel der landeseigenen Kitas seien geschlossen gewesen. Inhalt des | |
| Zusatz-Tarifvertrags soll ein [2][verbesserter Fachkraft-Kind-Schlüssel | |
| sein, der im Gegensatz zum jetzigen Personalschlüssel auch Personalausfall | |
| durch Urlaub, Weiterbildung und Krankheit berücksichtigt]. | |
| Nina schneidet eine Gurke in Scheiben. „Aus pädagogischer Sicht sollten die | |
| Kinder ihr Obst und Gemüse fürs Frühstück selbst schneiden, aber so geht es | |
| schneller! Schließlich bin ich allein“, erklärt sie. Die Erzieherin ist | |
| spät dran mit der Frühstücksvorbereitung. „Setzt euch alle schon mal hin!�… | |
| fordert sie die Kinder auf. Während sie noch die Brötchen aufschneidet, | |
| bedienen sich die Kinder am hinteren Tisch schon mal an der Wurst. | |
| Stillsitzen fällt den 3- bis 6-Jährigen schwer. Nina ermahnt die Kinder, | |
| leise zu sein. Einmal, zweimal, viele Male. Nach dem Frühstück verlässt sie | |
| den Raum, um den Wagen mit dem dreckigen Geschirr in die Küche zu bringen. | |
| Die Kinder sind in dieser Zeitspanne unbeaufsichtigt – genauso, wenn Nina | |
| auf die Toilette geht. Die Erzieherin hofft, dass die 6-Jährigen dann auf | |
| die Kleineren mit aufpassen. | |
| Auf dem Papier betreuen 2,5 Fachkräfte die 15 Kinder der Gruppe. In der | |
| Praxis ist eine Kollegin seit einem Jahr krank. Als klar war, dass auch | |
| ihre zweite Kollegin länger ausfallen würde, hat Nina von Teilzeit in | |
| Vollzeit gewechselt. Was als kurzfristiges Aufstocken für vier Wochen | |
| geplant war, dauert nun schon länger als ein halbes Jahr. Weil entweder | |
| Nina oder ihre Kollegin im Urlaub, krank oder in einer Fortbildung war, | |
| haben sie nur tageweise zusammengearbeitet. Die meiste Zeit betreut | |
| entweder Nina oder ihre Kollegin die 15 Kindern allein. | |
| ## Forderungen nach festen Zeiten für Aufgaben | |
| Neben besserer Betreuung fordert Verdi eine festgelegte Zeit für Aufgaben | |
| wie Vorbereitung und Dokumentation, einen Belastungsausgleich und | |
| Verbesserungen in der Ausbildung. Das sind laut Verdi | |
| Gewerkschaftssekretärin Tina Böhmer [3][Maßnahmen, die den Beruf der | |
| Erzieher*in wieder attraktiv machen können] und die die pädagogische | |
| Qualität in den Kitas sichern. Es brauche eine echte Trendwende, sagt | |
| Böhmer. „Viele angehende Erzieher*innen brechen ihre Ausbildung ab oder | |
| verabschieden sich schnell in andere Berufe, weil die Arbeitsbedingungen | |
| schlecht sind“, sagt sie. „Dazu kommt, dass ein großer Teil der | |
| Beschäftigten in Teilzeit arbeitet, um die persönliche Gesundheit zu | |
| schützen.“ Wären die Arbeitsbedingungen besser, würden auch mehr | |
| Erzieher*innen in Vollzeit arbeiten, meint Böhmer. | |
| Die Senatsverwaltung für Finanzen lehnt Verhandlungen darüber mit der | |
| Begründung ab, dass die Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) keine eigenen | |
| Tarifverträge erlaube. Dieses Argument lässt Böhmer nicht gelten. „Wo ein | |
| politischer Wille ist, ist auch ein Weg“, sagt sie. Beispiele für | |
| Einzelverhandlungen gebe es viele. „Die Frage ist: Wie viel ist uns | |
| frühkindliche Bildung wert?“ | |
| „Es gibt heute viel mehr Kinder mit emotionalen und motorischen Defiziten“, | |
| erklärt Nina. „Die Kinder wissen nicht, wie sie ihre Gefühle äußern | |
| können.“ Inzwischen seien die Kinder in der Kita, die in frühkindlicher | |
| Phase von den Kontaktverboten in der Coronapandemie geprägt wurden. Es | |
| fehle das Personal, um deren Bedürfnisse aufzufangen. Wie ihre | |
| Kolleg*innen fordert sie kleinere Gruppen und mehr Personal. | |
| Nina war schon am dreimonatigen Kita-Streik 1990 beteiligt. Sie hat | |
| erfahren, wie die Ansprüche an ihren Beruf in den Jahrzehnten gestiegen | |
| sind. Den Erzieher*innen in ihrer Kita werden pro Woche zwei Stunden | |
| für Schreibarbeit zugeteilt. „Wenn eine Erzieherin alleine ist, kann sie | |
| sich diese Zeit aber nicht nehmen“, sagt Nina. Zur Schreibarbeit zählt: | |
| Fragenkataloge zu Entwicklungsschritten beantworten, Elterngespräche | |
| vorbereiten, Fotos für die Sprachlerntagebücher machen, drucken, einkleben, | |
| mit jedem einzelnen Kind besprechen und das Gesagte verschriftlichen – | |
| Aufgaben, die alle in Anwesenheit der Kinder erledigt werden müssen, neben | |
| Vorbereitungen fürs tägliche Programm und dem Staubwischen auf den Regalen. | |
| „Für mich sind die Kinder wichtiger. Ich möchte mich nicht hier hinsetzten | |
| und die Kinder ignorieren, um administrative Arbeit zu erledigen“, sagt | |
| Nina. Was bleibe, sei das schlechte Gewissen, ihren Aufgaben nicht gerecht | |
| zu werden. | |
| ## Tarifabschluss soll sich auch auf die freien Träger auswirken | |
| Guido Lange vom Landeselternausschuss Kita (LEAK) kritisiert das Timing der | |
| Streiks. Er fände es richtig, wenn Verdi die Forderungen in den | |
| Verhandlungen über Kitafinanzierung im kommenden Jahr stellen würde. Dort | |
| verhandelte Regelungen würde für alle Berliner Kitas gelten und nicht nur | |
| für die Eigenbetriebe. Lange geht davon aus, dass die Mehrheit der | |
| betroffenen Eltern den Streik nicht unterstützt. Die | |
| Verdi-Gewerkschaftssekretärin Tina Böhmer dagegen meint, dass die meisten | |
| Eltern die Gründe der Streiks verstehen. „Auch ohne Streik werden | |
| Kita-Gruppen kurzfristig geschlossen, weil zu wenig Personal da ist“, sagt | |
| sie. An der Verdi-Aktion, Beschwerde-E-Mails an den Regierenden | |
| Bürgermeister Kai Wegner (CDU) zu senden, hätten mehrere Hundert Eltern | |
| teilgenommen. Von einem Tarifabschluss erhofft die Gewerkschaft sich eine | |
| Leuchtturmwirkung, die auf die freien Träger ausstrahlt. | |
| Nach der Morgenrunde geht es zum Spielen raus in den Garten. Hier gibt es | |
| Klettergerüste, Schaukeln und einen Bolzplatz. In den Himmel über den | |
| Kindern ragt ein Hochhaus mit Satellitenschüsseln auf den Balkonen. Draußen | |
| muss Nina ein Mädchen besonders im Blick behalten: Das 4-jährige Mädchen, | |
| das am Morgen noch so fröhlich wirkte, fängt immer wieder an zu weinen. Sie | |
| ist nicht hingefallen und hatte keinen Streit mit einem anderen Kind – sie | |
| sitzt einfach nur da und weint. Keiner weiß, warum. Niemand spricht ihre | |
| Sprache. Nina setzt sich neben sie, nimmt das Mädchen in den Arm und lässt | |
| sie kräftig ins Taschentuch schnäuzen. Die Tränen trocknen und das Mädchen | |
| springt auf, um spielen zu gehen. | |
| Ein Junge kommt angelaufen und berichtet aufgeregt, er sei beim Ballspielen | |
| ins Gesicht geschlagen worden. Nina geht zielstrebig auf den beschuldigten | |
| Jungen zu. Es sind keine Kinder aus ihrer Gruppe, aber sie ist da. Sie | |
| setzt sich hin. Der Junge erklärt auf Augenhöhe, was passiert ist. Er | |
| schaut dabei zu Boden und knetet seine Finger. Nina lässt ihm Zeit, um die | |
| richtigen Worte zu finden: „Ich habe ihn aus Versehen im Gesicht | |
| getroffen“, sagt er. Der Junge entschuldigt sich. Die Entschuldigung wird | |
| angenommen und beide Jungen rennen weg, um weiterzuspielen. | |
| Danach ist Mittagsruhe. Nina setzt sich auf den Boden und lehnt sich an die | |
| Wand. Die Kinder liegen um sie herum auf ihren Matten. Zum ersten Mal heute | |
| ist es leise im Gruppenraum. Nina liest eine Geschichte vor. Danach fordert | |
| sie die Kinder auf, 10 Minuten still zu bleiben. Nur ein gelegentliches | |
| Rascheln ist zu hören. Jetzt macht sie auch für einen Momente die Augen zu. | |
| Mehr Pause wird sie an diesem Tag nicht bekommen. | |
| ## Die Bildungssenatorin zeigt sich gesprächsbereit | |
| Ein erstes Gespräch zu Arbeitsbedingungen und geforderten Entlastungen für | |
| das pädagogische Personal gab es bereits zwischen Verdi und der | |
| Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU). „Noch keine Verhandlung, | |
| aber ein Anfang“, sagt Gewerkschaftssekretärin Böhmer optimistisch. Am | |
| selben Tag kündigte Verdi ein Gespräch mit Wegner an. Auf die | |
| taz-Nachfrage, ob der für Tarifverhandlungen zuständige Finanzsenator | |
| Stefan Evers (CDU) nun auch in einen Dialog mit Verdi eintritt, hieß es, er | |
| stehe laufend mit Verdi und anderen Gewerkschaften in Kontakt. | |
| Nina hat die Nachricht erhalten, dass Verdi für kommenden Donnerstag zum | |
| nächsten Streik aufgerufen hat. Bis zur Rente bleiben ihr noch 10 Jahre. | |
| „So lange halte ich die Lautstärke nicht aus“, sagt sie. Sie hat in | |
| verschiedenen Berufen gearbeitet. Sie ist eine Rückkehrerin, die nun über | |
| eine erneute Abkehr vom Beruf der Erzieherin nachdenkt. „Ich kenne die | |
| Vorzeichen bei mir: ein nervöses Zucken im Auge, ein Pfeifen im Ohr. Dann | |
| weiß ich, dass ich die Reißleine ziehen muss.“ Anfang des Jahres hat Nina | |
| einen großen Präsentkorb mit Feinkost von den Eltern geschenkt bekommen. | |
| „Als Dankeschön dafür, dass ich hier die Stellung gehalten habe und so gute | |
| Arbeit leiste, dass die Kinder gerne in die Kita kommen. So eine | |
| Anerkennung habe ich noch nie bekommen“, sagt sie sichtlich gerührt. | |
| Als die Kinder abgeholt werden, informiert sie die Eltern an der Tür über | |
| den kommenden Streiktag. „Ist die Kita dann ganz zu?“ fragt eine Mutter | |
| vorsichtig. „Ja, ganz zu“, antwortet Nina. Die Mutter seufzt nur leise. | |
| 18 Jun 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Gesche Hullmann | |
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