Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Räuber, die nach Pflanzen fischen
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (Folge 195): Piranhas
> sind allermeist friedlicher als ihr Ruf und oft vegetarisch unterwegs.
Bild: Leider mausetot und aus der Themse gefischt: Ein rotbäuchiger Piranha
Piranhas sind in südamerikanischen Gewässern lebende Raubfische. Ihr Name
kommt von den am unteren Amazonasbecken siedelnden Tupi-Guarani: pira heißt
Fisch und anha Zahn. Es gibt 40 verschiedene Piranha-Arten. Verletzte Tiere
werden von ihnen im Schwarm angefallen und mit ihren scharfen Zähnen
blitzartig zerfleischt.
Ein Dokumentarfilm zeigte eine verletzte Anakonda, die von ihnen in wenigen
Minuten bis aufs Skelett gefressen wurde. In der Netflix-Serie „Wednesday“,
der in der „Nancy-Reagan-Highschool“ spielt, wirft die Hauptdarstellerin
aus Rache zwei Plastiktüten mit Piranhas in das Schulschwimmbecken, in dem
gerade ein paar Jungs Wasserball spielen. Einen zu ihr besonders gemeinen
Jungen erwischen die Fische. „Ich habe damit der Welt einen Gefallen
getan,“ sagt sie, als sich das Wasser um ihn rot färbt.
So gefährlich sind die Piranhas aber gar nicht: „Sie sind eigentlich
friedlich. Zumindest wenn es keinen Grund zur Unruhe gibt. Die Legenden um
die Blutrunst dieser Raubfische gehen nicht zuletzt auf Humboldt zurück,
der beschrieb, wie in Brasilien Piranhas Menschen beim Baden anfallen und
das Fleisch rausreißen, erzählte Marco Hasselmann, Revierleiter der
Süßwasserabteilung am Aquarium Berlin, dem Onlinemagazin wissenschaft.de.
„Bei uns im Aquarium klettern wir in ihr Becken, um die Scheiben zu putzen.
Und da werden wir nicht auf der Stelle attackiert und gefressen. Nur
einmal, als wir Jungtiere mit einem Käscher umsetzten, hat mir einer
ordentlich in die Hand gebissen.“
Auch im Amazonas wagte es die Flussdelfinforscherin Sy Montgomery zwischen
Piranhas zu baden. Im Bremer Überseemuseum gab es ein Aquarium mit
Piranhas. Weil ich nach der Schule gerne die Tierpfleger besuchte, konnte
ich dort die Fische in den Becken von oben beobachten. Obwohl oder weil ich
damals schon einige Piranha-Schauergeschichten kannte, hielt ich
gelegentlich einen Finger in ihr Becken – aber nur kurz. Der wahre
Horrorfilm „Piranhas“ von Roger Corman kam erst 1978 in die deutschen
Kinos.
In den neunziger Jahren besuchte ich ab und zu den Zierfischzüchter und
-händler Benjamin Wohlfeld bei Berlin-Spandau. Der in einem israelischen
Kibbuz aufgewachsene damals 68-Jährige hatte 25 Jahre lang Killereinheiten
in Uganda und die GSG9 in Deutschland ausgebildet.
Als Hobby-Aquarianer war er schon immer an Fischen interessiert gewesen:
„Wenn die anderen Karten spielten, habe ich Tiere beobachtet.“ Nach seiner
Pensionierung baute er sich auf dem Gelände des ehemaligen
Zeppelin-Motorwerks in Staaken eine Fischfarm auf, wo er unter anderem
Designer-Karpfen, sogenannte Kois, züchtete und es damit zum größten
Koi-Händler Deutschlands brachte. Wenn er von einem besonders schönen und
deswegen auch teuren Koi schwärmte, klang es wie „Goi“.
Seine Fischfarm ließ er nachts von „brasilianischen Killerhunden“ bewachen,
gegen die Fischreiher am Koi-Teich half ein Zaun. Nebenbei baute er noch,
mit IWF-Geldern, Speisefisch-Zuchtanlagen in Marokko, Kolumbien und China
auf. Die Berliner Zeitung schrieb: „Wohlfelds Spezialität ist die Züchtung
von neuen Gruppen und Rückzüchtungen“.
So ließ er beispielsweise fleischfressende junge Piranhas unter
pflanzenfressenden aufwachsen. Zunächst ernährten sie sich kümmerlich von
deren Kot, dabei nahmen sie die zur Pflanzenverdauung notwendigen
Darmbakterien auf und stellten sich vollständig um. Und auch äußerlich
passten sie sich den vegan lebenden Piranhas an.
Weil die Speisefische in den Meeren immer weniger werden, gibt es immer
mehr Aquakulturen. 2012 stammte bereits die Hälfte aller weltweit
konsumierten Fischprodukte aus solchen Farmen. Doch auch dort verlangt ein
Raubfisch nach Fisch. Für den besonders räuberisch lebenden, aber auch
schmackhaften Offiziersbarsch haben Forscher der University of Maryland
einen vegetarischen Speiseplan veröffentlicht, der dem bis zu 70 Kilo
schweren Tier offenbar schmeckt und bekommt, wie die Süddeutsche Zeitung
berichtete. „Statt Fischmehl und -öl erhalten die Zwangs-Vegetarier eine
Mischung aus Soja- und Weizen-Eiweißen, Amino- und Fettsäuren. Damit die
Tiere ordentlich wachsen, braucht es zudem die Substanz Taurin, die auch in
Energy-Drinks steckt.“
„Selbst wenn Sie ein Forellenfilet aus Aquakulturen kaufen, stammt es mit
großer Wahrscheinlichkeit von einem Fisch, der zu etwa 70 Prozent
pflanzliche Kost gefressen hat“, sagt der Fischernährungsexperte Ulfert
Focken vom Thünen-Institut für Fischereiökologie. Die Raubfische werden in
den Zuchtbecken quasi getäuscht, indem die Pellets, die man ihnen füttert,
aus einer nach Fisch riechenden Mischung bestehen.
## Spezielle Darmbakterien auch für Biber und Koalabären
Auch geborene Pflanzenfresser wie Biber und Koalabären benötigen anfangs
spezielle Darmbakterien, um ihre vegane Nahrung verdauen zu können, diese
nehmen sie mit dem Kot ihrer Mutter auf. Menschen nehmen einen Großteil
ihres Darm-Mikrobioms während des Geburtsvorgangs und durch die Muttermilch
auf.
Der Dramatiker und Insektenforscher Maurice Maeterlinck schrieb 1926, dass
die „genossenschaftlich lebenden sozialen Insekten“ sich gegenseitig mit
Kot füttern. Ihm ging deren schier kommunistischer „Kollektivismus des
Kotfressens“ aber zu weit. Er wusste noch nicht, dass sie sich auf diese
Weise mit den für sie lebensnotwendigen Mikroorganismen versorgen, die sie
für die Verdauung von Holz benötigen.
Eine Nachrichtenagentur meldete kürzlich: „Wissenschaftler haben im
Amazonasgebiet eine dem Piranha ähnliche, aber vegetarisch lebende Fischart
entdeckt – und sie nach dem Tolkien-Bösewicht Sauron benannt. Die Fischart
hat entsprechend ihrer pflanzlichen Ernährung Zähne, die denen von Menschen
ähneln […] Myloplus sauron kommt nur im Rio Xingu vor, einem Zufluss des
Amazonas.“
Wussten diese britischen Fischforscher, dass Benjamin Wohlfeld schon vor
Jahrzehnten Pflanzen fressende Piranhas züchtete und sie, wie auch seine
Fleisch fressenden, an Aquarianer verkaufte? Oder wollten sie partout eine
neue Piranha-Art entdecken und benamen?
17 Jun 2024
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Die Wahrheit
Tiere
Biologie
Fische
Zoologie
Social-Auswahl
Tiere
Die Wahrheit
Die Wahrheit
Tiere
Die Wahrheit
Tiere
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Geier im analgetischen Sturzflug
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (198): Die hungrigen
Aasfresser gehen in Indien letztlich an Schmerzmitteln für Kühe ein.
Die Wahrheit: Sie sind nass und sie können reden
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (197): Biber wurden lange
wegen ihres Pelzes und ihres Drüsensekrets gejagt und fast ausgerottet.
Die Wahrheit: Durchsichtig und grün im Darm
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (196): Wasserflöhe sind
winzig, aber eine wichtige Nahrung für andere Wasserbewohner.
Die Wahrheit: Klopfzeichen mit dem Schwanz
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (194): Die arglosen
Wüstenrennmäuse mussten schon für allerlei suspekte Forschungen herhalten.
Die Wahrheit: Borstenvieh auf der Anklagebank
Die lustige Tierwelt und ihrer ernste Erforschung (193): Schweine wurden
schon immer vor die Schranken der Gerichte gezerrt.
Die Wahrheit: Gewalttätige Halbstarke
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (192): Meisen sind
zänkisch und unleidlich, aber auch hingebungsvoll und klug.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.