Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Klopfzeichen mit dem Schwanz
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (194): Die arglosen
> Wüstenrennmäuse mussten schon für allerlei suspekte Forschungen
> herhalten.
Bild: Nur selten haben Labormäuse Einfluss auf die Versuchsanordnungen, in den…
An dieser Stelle war im November 2020 von Mongolischen Wüstenrennmäusen die
Rede – als Käfigtiere in Kinderzimmern. Sie werden auch als Versuchstiere
in Laboren gehalten. Die Forschung an Mäusen ist Menschenforschung. Weil
die Forscher meist Englisch sprechen, werden diese Mäuse Gerbils genannt.
Die Wissenschaftssoziologin Karin Knorr Cetina erwähnt in ihrem Buch „Die
Fabrikation von Erkenntnis“ (2023) ein Forschungsprojekt, in dem die
Gerbils rot eingefärbtes Chitin zu fressen bekamen. „Das Polymer Chitin
gehört zu den Zellulosen, die vom menschlichen Körper nicht verdaut werden.
Die Frage war, ob und bis zu welchem Grad es sich als Trägersubstanz für
andere Substanzen eignet.“
Mit Farbmessmethoden wurde die Kacke der Gerbils untersucht, inwieweit das
Chitin eine „entsprechende Substanz“ bindet und deren Absorption
verhindert. Schon bald verloren die Gerbils jedoch Haar und Gewicht.
Daraufhin wurde das Experiment nach dreizehn Tagen abgebrochen. „Abbruch
hieß, dass die Mäuse getötet und für spätere pathologische Untersuchungen
eingefroren wurden.“
Die Forscher rätselten, was die amerikanische Food and Drug Administration
(FDA) bewogen hatte, die rote Farbe für den menschlichen Genuss
freizugeben, die Behörde „veröffentlichte ihre Informationsbasis nicht“.
Der Leiter der Forschung wandte sich an den Hersteller der roten Farbe, er
wurde dort jedoch „vollständig abgeblockt“. Vielleicht war die Farbe an
Ratten getestet worden und waren diese weniger empfindlich als die Mäuse
gegen das möglicherweise leicht toxische Rot, vermutete man.
## Technokunst mit Nagetieren
Das nächste Experiment mit Gerbils wurde 1970 in einer Ausstellung des
Jüdischen Museums New York durchgeführt. Sie hieß „Software – Information
Technology: Its New Meaning for Art“. Daran beteiligt waren viele
Künstler, im Zentrum stand jedoch eine computergesteuerte Versuchsanordnung
namens Seek, die vom Urban Systems Laboratory des Massachusetts Institute
of Technology (MIT) entwickelt wurde.
„ ‚Seek‘ war eine Maschine, die sowohl ein kybernetisches Weltmodell wie
ein behavioristisches Experimentallabor sein konnte und von einem
Allzweckrechner gesteuert wurde“, schreibt der Leipziger Künstler Lutz
Dammbeck in seinem Buch „Seek – Der Golem geht um: Affären zwischen Kunst,
Wissenschaft und Technologie“ (2023), in dem er die amerikanische
Entwicklung und Ausweitung der militärischen Elektronik in den zivilen und
künstlerischen Bereich nachzeichnete, wobei die „Software“-Show im Museum
eine Erweiterung ihrer Judaicasammlung auf Technokunst darstellte.
Statt Menschen standen auch hier Mäuse im Mittelpunkt. Sie lebten hinter
Glas in einer kleinen Stadt aus Metallwürfeln. „Herr“ ihrer Stadt war ein
„computergesteuerter Roboterarm“ mit einem elektromagnetischen Greifer,
„diversen Mikroschaltern und Druckfühlern“. Die Gerbils hatten „die
Funktion des Zufalls und des Chaos“ – indem sie die Würfel umstießen und
verschoben. Der Roboterarm sollte dagegen „Ordnung“ schaffen und „die
Würfel an den richtigen Standort zurücksetzen“, gleichzeitig auch die
Differenz „statistisch erfassen, um ein Muster für das ‚Chaos‘ und den
‚Zufall‘ [zu] erstellen“.
Hinzu kam ein „psychoakustischer Aspekt“: Die Würfel waren nach einem
vorprogrammierten Muster angeordnet, sodass der Rechner „auf den von Mäusen
produzierten Lärm, zum Beispiel das Trippeln ihrer Füßchen auf den
Bausteinen oder die Klopfzeichen mit ihrem Schwanz, reagieren konnte“.
## Kannibalismus in der Gameshow
Die MIT-Arbeitsgruppe konzentrierte sich derweil täglich auf die
Weiterentwicklung des Computers und des Programms von Seek. Die Mäuse
„waren eher Material für eine Vernutzung im Ablauf des Experiments und
dienten nebenher zur Unterhaltung des Publikums“, schreibt Dammbeck.
Für den Leiter der MIT-Arbeitsgruppe, Nicholas Negroponte, sollte das
Mäuseexperiment „die Möglichkeiten erahnen lassen, die sich ergäben, wenn
ein Großrechner in einer Stadt mit vielen Sensoren oder Kameras an
öffentlichen Orten nicht nur Muster des Verkehrs, sondern auch das
Verhalten der Bewohner oder ganz allgemeine demografische Muster erstellen
konnte – von Tag zu Tag, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr“. Das würde
den Computer „wirklich zu einer Maschine des Verhaltens machen“ und die
damit ausgerüstete Stadt zu einer „Smart City“.
Die Ausstellung im Jüdischen Museum erwies sich jedoch laut Dammbeck als
ein technisches Desaster. Durch ein Versehen des Hausmeisters wurde der
Hauptcomputer PDP-8 „außer Gefecht gesetzt und musste mehrmals
umprogrammiert werden“. In den Ausstellungsräumen herrschte „teilweise
Chaos“. Einige beteiligte Künstler zogen sich wegen der „kritischen, zum
Teil hämischen Berichterstattung“ zurück, anderen wurde es „ungemütlich
angesichts der Proteste gegen den Vietnamkrieg und der an der Ausstellung
beteiligten Institutionen, die für die Rüstungsindustrie arbeiteten“.
Das größte Problem aber waren Dammbeck zufolge die Mäuse: Da sie „soziale
Wesen“ waren, die in Familienverbänden lebten, versuchten sie ihr
Seek-Gehege so zu strukturieren, „wie sie es an jedem anderen Lebensort
getan hätten“. Nur gab es in dem neuen „Heim für ihren Gestaltungswillen
kein brauchbares Material: keine Einstreu, kein Heu oder Gras, keine Zweige
oder Mulch“. Da Seek wie der „Ablauf einer Gameshow streng strukturiert“
war, konnten die Mäuse auch ihren Biorhythmus nicht aufrechterhalten. Sie
waren ununterbrochen in dem „riesigen verglasten Kubus eingesperrt und bald
vom Stress durch den Roboterarm und den neugierigen Besuchern erschöpft“.
Es kam zu Machtkämpfen und Kannibalismus.
## Neuinszenierung ohne Greifarm
„War ‚Seek‘ der Vorbote eines digitalen Faschismus?“, fragt sich Dammbe…
Die Gerbils wurden am Ende „entsorgt“. Der Betreiber des Museums, das
Theologische Seminar, zog aus dem Fiasko den Schluss, fortan nur noch
jüdische Ausstellungen zu finanzieren.
Dammbeck aber blieb dran: Er besorgte sich bei Halle 25 Gerbils und
inszenierte mit neuer Hightech Seek II – 2007 in einer Berliner Galerie,
2009 in der Hamburger Kunsthalle, 2010 im Kunstraum des Deutschen
Bundestags und 2023 im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie
(ZKM). Das für den Tierschutz zuständige Veterinäramt bestand dabei
allerdings auf „einen Rückzugsort für die Mäuse“. Durfte dort kein
Greifarm mehr für „Ordnung“ sorgen?
3 Jun 2024
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Tiere
Tierversuche
Wissenschaftskritik
Die Wahrheit
Die Wahrheit
Die Wahrheit
Die Wahrheit
Tiere
Tiere
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: Sie sind nass und sie können reden
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (197): Biber wurden lange
wegen ihres Pelzes und ihres Drüsensekrets gejagt und fast ausgerottet.
Die Wahrheit: Durchsichtig und grün im Darm
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (196): Wasserflöhe sind
winzig, aber eine wichtige Nahrung für andere Wasserbewohner.
Die Wahrheit: Räuber, die nach Pflanzen fischen
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (Folge 195): Piranhas sind
allermeist friedlicher als ihr Ruf und oft vegetarisch unterwegs.
Die Wahrheit: Borstenvieh auf der Anklagebank
Die lustige Tierwelt und ihrer ernste Erforschung (193): Schweine wurden
schon immer vor die Schranken der Gerichte gezerrt.
Die Wahrheit: Gewalttätige Halbstarke
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (192): Meisen sind
zänkisch und unleidlich, aber auch hingebungsvoll und klug.
Die Wahrheit: Von und vom Vögeln
Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (191): Der Frühling ist da
– und das Federvieh balzt wieder in höchst diverser Pracht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.