| # taz.de -- Die Wahrheit: Borstenvieh auf der Anklagebank | |
| > Die lustige Tierwelt und ihrer ernste Erforschung (193): Schweine wurden | |
| > schon immer vor die Schranken der Gerichte gezerrt. | |
| Bild: Arme Schweine | |
| Im französischen Savigny-sur-Etang tötete 1457 ein Schwein, das sechs Junge | |
| hatte, ein Kind. Die Sau kam vor Gericht, wurde des Mordes für schuldig | |
| befunden und öffentlich gehängt. Ihre Ferkel wurden freigesprochen – mit | |
| dem Argument ihres Verteidigers, dem sich das Gericht anschloss, dass sie | |
| zum Tatzeitpunkt noch geistig minderbemittelt gewesen seien. | |
| Immer wieder wurden im Mittelalter in Europa Schweine vor Gericht gezerrt. | |
| Höchstens mit einem guten Anwalt wurden sie freigesprochen. Mitunter wurden | |
| sie vor der Verhandlung noch eingekleidet und geschminkt – zum Beispiel im | |
| „Tribunal von Falaise“, wo 1386 ein Schwein verurteilt und gehängt wurde, | |
| das einen Säugling tödlich verletzt hatte. In Fällen, wo jemand ein Schwein | |
| zum Geschlechtsverkehr gezwungen hatte, musste der Täter dran glauben, im | |
| Schwein sah das Gericht ein unschuldiges Opfer. | |
| Ein zum Tode verurteiltes Schwein wurde meist von einem Henker mit dem Beil | |
| hingerichtet, manche aber auch gehängt, verbrannt oder ertränkt. In Jülich | |
| flochten 1582 „einige Gerechte ein Schwein aufs Rad – in der Hoffnung“, | |
| schreibt Elke Bodderas in der Welt, „es möge anderen ‚zum abscheulichen | |
| Exempel dienen‘. Das Schwein hatte eine geweihte Oblate gefressen.“ | |
| Auch viele andere Haustiere kamen vor Zivilgerichte, Wildtiere dagegen vor | |
| kirchliche, am häufigsten waren es jedoch Schweine. In den Städten und | |
| Dörfern streunten sie als Abfallverwerter durch die Straßen. Schweine und | |
| Menschen lebten eng zusammen. In den „Mastjahren“, wenn es viele Kastanien, | |
| Eicheln und Bucheckern gab, trieb man die Schweine in die Wälder. Immer | |
| wieder verpaarte sich ein Hausschwein mit einem Wildschwein. Es gibt heute | |
| noch Waldvölker mit frei laufenden Hausschweinen, die steif und fest | |
| behaupten, ihre Sauen würden so etwas nie tun. | |
| ## Seele | |
| Die Gerichtsprozesse gegen Schweine und andere Tiere, die noch lange Zeit | |
| danach von Juristen und Historikern geleugnet wurden, legen nahe, dass man | |
| ihnen als Angeklagte ein „Bewusstsein“ ihrer Tat zugestand. Eine „Seele“ | |
| besaßen dem (jüdischen) Glauben zufolge sowieso alle. | |
| Da wo heute Tierschützer sich bemühen – auch den nicht-menschlichen Wesen | |
| Bewusstsein, Eigenwilligkeit, Schmerzen (in Evolutions-Graden: von | |
| Menschenaffen und Walen abwärts) zuzugestehen –, waren wir schon einmal, | |
| bevor die Tiere mit Descartes 1650 als schmerzfreie Maschinen begriffen | |
| wurden. | |
| Und so kam es, dass 2012 das Europäische Patentamt dem | |
| US-Medikamentenhersteller Altor ein Patent auf einen genveränderten | |
| Schimpansen erteilte. „Es ist für mich eine schockierende Vorstellung, dass | |
| eine Firma in einem Menschenaffen nur noch ein technisches Instrument | |
| sieht“, sagte Jane Goodall, die Einspruch gegen die Patenterteilung erhob. | |
| ## Organe | |
| 2022 überlebte ein Amerikaner zwei Monate einen Austausch seines | |
| fehlerhaften Herzens durch ein genetisch verändertes Schweineherz. Der | |
| japanische Mediziner Hiromitsu Nakauchi hatte 2019 erstmals eine | |
| Mensch-Tier-Chimäre im Labor „erzeugt“ – mit Erlaubnis der japanischen | |
| Regierung. Nun will Nakauchi, der in Stanford und an der Universität von | |
| Tokio forscht, menschliche Organe in Schweinen züchten. | |
| Mit der abnehmenden Zahl der Tiere und der zunehmenden Zahl von Menschen | |
| nimmt gleichzeitig der Tierschutz an Umfang und Einfluss zu. Man spricht | |
| vom „political turn in animal ethics“. In der Schweiz wurde Tieren per | |
| Gesetz eine „Würde“ zuerkannt. Und in Zürich praktizierte ein „Tieranwa… | |
| Antoine Goetschel, der in 700 Fällen Tiere gegen Tierquäler, | |
| -vernachlässiger oder -missbraucher vertrat. | |
| Der Zeitschrift Neon erklärte er seine Tätigkeit vor Gericht so: „Nehmen | |
| Sie die Schweine, die können grunzen, feixen, quieken, schnüffeln. Nur | |
| ‚aua‘ schreien können sie nicht. Wird ihnen Leid zugefügt, können sie we… | |
| Anzeige erstatten noch aussagen. Dazu braucht es einen Vertreter wie mich, | |
| der die Interessen der Tiere vertritt.“ Als Beispiel erwähnt er zwei | |
| Schweine, die auf dem Transport starben. Sie erstickten, weil der Fahrer 35 | |
| statt der erlaubten 30 Tiere geladen hatte. „Er war sich keiner Schuld | |
| bewusst.“ | |
| In Deutschland besitzen die Tiere gemäß des Tierschutzgesetzes von 1972 | |
| „keine Rechtsfähigkeit und können daher keine klagebefugten Rechtsgutträger | |
| sein“, wie der Leiter des FU-Instituts für Tierschutz und Tierverhalten, | |
| Jörg Luy, im Wissenschaftsmagazin Spektrum erklärt. Bei den Schweinen in | |
| der Massentierhaltung drängt der „Tierschutz“ (Initiativen, Verbände, | |
| Organisationen) unter anderem auf Verbesserung ihrer Ställe, wobei es bei | |
| der Größe buchstäblich um Dezimeter pro Schwein geht. Verboten ist | |
| neuerdings auch das Kastrieren und Schwänzebeschneiden der Ferkel ohne | |
| Betäubung. | |
| In den USA ist man in Hinsicht auf die Seele moderner und mittelalterlicher | |
| zugleich. Dort biss 1991 ein Hund namens Taro die Nichte des Sheriffs, der | |
| ihn daraufhin festnahm. Ein US-Gericht verurteilte den Hund wenig später | |
| zum Tode. Drei Jahre saß Taro im Todestrakt von Trenton, dem | |
| Hochsicherheitsgefängnis von New Jersey. | |
| Es kann sein, dass es sich um ein rassistisches Verfahren handelte, denn | |
| der Hund war ein japanischer Akita Inu. Aber wie auch immer: 1994 begnadete | |
| New Jerseys frisch gewählte Gouverneurin Taro, allerdings mit Auflagen: | |
| „Lebenslanges Exil, Verbannung nach Alaska und Übergabe an neue Besitzer, | |
| die für alle künftigen Schäden haften.“ Die Tierschützer Brigitte Bardot | |
| und Aga Khan hatten angeboten, den Hund zu retten: „Er hat seine Schuld | |
| gegenüber der Gesellschaft bezahlt“, meinte Brigitte Bardot 1993. | |
| 1903 hatte man einen Zirkuselefanten namens Topsy, der einen Mann | |
| zertrampelt hatte, erstmalig zum Tod durch Elektrizität verurteilt. Der | |
| „Henker“ war Thomas Alva Edison, der die gefilmte Hinrichtung als Werbeclip | |
| für seinen Gleichstrom nutzte. | |
| ## Menschen | |
| Für ein ähnliches „Delikt“ wurde 1916 die Zirkuselefantenkuh Mary in Erwin | |
| (Tennessee) gehängt – mit Hilfe eines modernen Ladekrans und einer dicken | |
| Kette. Als Mary jedoch anfing zu zappeln, riss die Kette und sie musste | |
| noch einmal aufgehängt werden. | |
| Mit Alexander Kluge kann man sagen: Früher standen sich die Menschen näher. | |
| Ihre Schusswaffen trugen nicht weit, aber auch die Schweine standen ihnen | |
| näher (als uns heute proportioniert im Supermarkt), denn sie wurden immer | |
| wieder von den Menschen für ihre Taten zur Verantwortung gezogen. Heute | |
| würde man eher umgekehrt dem Schlachthofbesitzer Tönnies etwa zur | |
| Verantwortung ziehen wollen, der mit 23.000 Schweinen täglich kurzen | |
| Prozess macht. | |
| Am 2. Mai forderten Demonstranten in Altenburg, wo Tönnies gerade einen | |
| weiteren Schlachthof übernommen hat: „Schluss mit dem System Tönnies!“ La… | |
| Tierschutzgesetz hat sein Tun aber einen „vernünftigen Grund“. | |
| 21 May 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Helmut Höge | |
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