# taz.de -- Will der Kanzler noch das Klima retten?: Lieber mit der Wahrheit st… | |
> Zerbricht die Gesellschaft an der Klimapolitik? Kanzleramtsminister | |
> Wolfgang Schmidt debattiert in Berlin mit Hedwig Richter und Bernd | |
> Ulrich. | |
Bild: Streiten ums Klima: Moderator Jonas Schaible, Wolfgang Schmidt, Hedwig Ri… | |
Berlin taz | Von allen Gedanken schätze ich doch am meisten die | |
interessanten. Mit diesem Satz erklärte Kanzleramtsminister Wolfgang | |
Schmidt, warum er an diesem Abend in die Berliner Urania gekommen war, und | |
droppte damit auch gleich mal popkulturelle Kompetenz (das ist der Titel | |
eines Albums der [1][Hamburger Band Die Sterne]) und Lokalpatriotismus (er | |
kommt aus Hamburg). | |
Schmidt, 53, ist der Stratege hinter Olaf Scholz, und es ist kaum | |
übertrieben, dass er den als hoffnungslos geltenden Kandidatenfall ins | |
Kanzleramt geführt hat. Die „interessanten Gedanken“ beziehen sich auf ein | |
viel diskutiertes Buch seiner Gesprächspartner, der Historikerin Hedwig | |
Richter und des Zeit-Journalisten Bernd Ulrich mit dem Titel „Demokratie | |
und Revolution“, in dem eine Grundfrage der Gegenwart analysiert wird: Die | |
klimabedingten Katastrophen in der Welt und der Bundesrepublik nehmen | |
sichtbar zu, und gleichzeitig hat Klimapolitik an Akzeptanz verloren und | |
ist in Europa auf dem Rückzug – wie passt das zusammen und wie kann man das | |
ändern? | |
Die Kernthese von Richter und Ulrich lautet, dass die bundesdeutsche | |
Politik und speziell Kanzler Olaf Scholz gescheitert sind mit der Strategie | |
der „Zumutungslosigkeit“, also dass man uns Leuten stets gesagt habe, es | |
werde alles technologisch geregelt und man werde von dem Zeitenbruch nicht | |
im Allergeringsten persönlich behelligt. | |
Der Ärger, die Wut, der Zulauf für die rechtspopulistischen Parteien | |
entstehe dadurch, dass dieses Versprechen durch die neue Realität der | |
Pandemien, Kriege, Katastrophen gegendargestellt werde. Ansatzweise auch | |
durch das ikonische Gebäudeenergiegesetz, sodass nun jeder Eigenbeitrag als | |
vollkommen asozial und freiheitsberaubend abgelehnt werde, weil nicht offen | |
ausgesprochen oder gar abgemacht gewesen sei. Sobald Teile der | |
Mediengesellschaft „unzumutbar“ rufen und ihr Recht auf „Normalität“ | |
einklagen, ist diese Politik am Ende und werden Gesetze wie das GEG wieder | |
mit CO2-Emissionen aufgetankt. | |
„Resignativer Plebiszitismus“, nennen die Autoren das. Ihre These: Erst | |
wenn man „die Wahrheit“ sage, also dass es Wohlstandsverluste geben wird, | |
dass Alltags-, Konsum-, Ernährungs- und Denkgewohnheiten sich ändern, habe | |
man eine Chance, den Bann einer illusionistischen Realpolitik zu brechen, | |
der die Leute kirre und demokratieskeptisch mache. | |
## Nebenfolgen unseres Wohlstands | |
Nun ist das, was wir für „normal“ halten, also die ersten 70 Jahre der | |
Bundesrepublik, wohl eine historische Ausnahme, in der vieles gut für uns | |
lief, ohne dass wir uns der Grundlagen bewusst waren (US-amerikanische | |
Weltordnung, chinesischer Markt, russisches Gas) und die Nebenfolgen nicht | |
eingepreist haben (Ausbeutung von Planet, anderen Ländern, Zukunft). | |
Der Kernkonflikt wird jetzt präsentiert als: Weiter so oder anders? Wobei | |
„weiter so“ Illusionismus ist angesichts der terrestrischen, geopolitischen | |
und globalwirtschaftlichen Entwicklungen, aber Illusionismus ist leider | |
eine kurzfristige Supergeschäftsgrundlage – und eben nicht nur für | |
Rechtspopulisten. Und (fast) jeder Mensch ist in seiner Alltagsrealität | |
konservativ. | |
Insofern hat Wolfgang Schmidt sicher einen Punkt, wenn er die Idee von | |
Richter/Ulrich skeptisch sieht, Mittelschicht aufwärts solle ihr | |
individuelles Leben ändern (das untere Drittel lebt sowieso schon | |
emissionsarm): „Die Verzichtsrhetorik“ komme vielleicht beim Publikum der | |
Urania gut an (kam sie auch), aber grundsätzlich glaube er, „dass die | |
Zumutungsansprache nicht funktioniert“. | |
Auch wenn Schmidt – Anzug, keine Krawatte – an diesem Abend | |
selbstverständlich auf seinem Sozialdemokratentum herumreitet und die | |
parteistrategischen Ressentiments gegen klimakulturell entwickeltes | |
Bürgertum zumindest anklingen lässt (Tenor: Schnösel aus dem renovierten | |
Altbau), so muss man doch davon ausgehen, dass er echte Ahnung hat, wie | |
Milieus drauf und auch dran sind, die gerade mal so über die Runden kommen. | |
Und eines scheint für ihn klar zu sein: Wenn man die Gesellschaft | |
einigermaßen zusammenhalten will (und das will er), dann darf man auf | |
keinen Fall jene „Triggerpunkte“ für Polarisierung drücken, die der | |
Soziologe Steffen Mau identifiziert hat. Einer davon ist die | |
Infragestellung der „Bratwurst-Normalität“ (Hedwig Richter), denn da rasten | |
Leute aus. | |
## Will Scholz Klimapolitik machen? | |
Richter/Ulrich wollen das Individuum einbeziehen, Schmidt alles über die | |
„strukturelle Frage“ entscheiden. Richter/Ulrich verweisen darauf, dass | |
gerade der Demokratie die Möglichkeit zur radikalen und erst mal | |
unpopulären Veränderung eingewoben sei – gerade auch innerhalb der | |
Legislatur, in der eine Regierung gewählt ist. | |
Scholz, der Kanzler, will aber offenbar bis Legislaturende gar keine | |
Klimapolitik mehr machen (das stimme nicht, sagt Schmidt) oder jedenfalls | |
nichts, was nicht mehrheitsfähig sein könnte. Klimapolitik, das ist nicht | |
gut, das sind die Grünen. Und beides muss verhindert werden, da haben | |
Demokraten und Demokratiefeinde bisher die gleiche Wahlstrategie. | |
Aber da ist noch ein bisher unbeachteter Zusammenhang, den Bernd Ulrich | |
herstellt: dass nämlich die Bundesregierung ihre Klimaziele aufgebe oder | |
verschiebe, die Probleme nicht löse – und gleichzeitig immer weniger | |
mehrheitsfähig werde. Da wäre ja die naheliegende Schlussfolgerung: Dann | |
macht doch lieber ernsthafte Zukunftspolitik. Damit habt ihr sogar eine | |
Chance, wieder mehrheitsfähig zu werden. | |
## Mit der Wahrheit kämpfen | |
„Deshalb der Vorschlag“, rief Ulrich: „Mit der Wahrheit kämpfen.“ | |
Worauf Schmidt antwortete: „Der Kanzler stellt sich hin und sagt: Es muss | |
alles anders sein?“ Das sei „ein fast schon naiver Vorschlag.“ | |
Das Interessante an diesem Abend ist, dass man durch Wolfgang Schmidts | |
Gedanken versteht, warum Politik so handelt, wie sie handelt (nämlich zu | |
wenig), wie groß die Differenz ist zwischen dem Notwendigen und dem, was | |
Politiker in Regierungsverantwortung tatsächlich tun zu können glauben. Das | |
andere Interessante ist, dass man durch keine Klimapolitik auch keine | |
Mehrheit bekommt. | |
7 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
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