| # taz.de -- Nachkriegsszenarien für den Gazastreifen: Wer soll Palästina regi… | |
| > Im Westjordanland hat die Autonomiebehörde Probleme. Mit der Kontrolle | |
| > über Gaza kämen weitere dazu. Doch eine Alternative zu ihr gibt es nicht. | |
| Bild: Palästinenser:innen an einem der Checkpoints zwischen Westjordanland und… | |
| Ramallah/Jerusalem/Nablus Mitte Mai – der Krieg gegen die Hamas in Gaza | |
| tobt seit acht Monaten – platzt Benny Gantz, Minister im Kriegskabinett von | |
| Israels Premier Benjamin Netanjahu, der Kragen. Es mangele an Strategie, | |
| erklärt er, und an mutigen Entscheidungen. Seinem Chef und langjährigen | |
| On-off-Gegner [1][Netanjahu stellt er ein Ultimatum]: Zu sechs | |
| strategischen Punkten sollen bis zum 8. Juni Entscheidungen fallen, sonst | |
| wolle er aus dem Kabinett aussteigen. | |
| Der dritte Punkt, gleich nach der Rettung der Geiseln und dem Sturz der | |
| Hamas, ist die unbedingte Notwendigkeit eines „internationalen zivilen | |
| Verwaltungsmechanismus“, der als Basis dienen solle „für eine künftige | |
| Alternative, die nicht Hamas und nicht Abbas ist“. Für das politische | |
| „Danach“ in Gaza schließt Gantz damit gleich die Regierung der | |
| palästinensischen Autonomiegebiete unter Präsident Mahmud Abbas aus. | |
| Doch auch weil in den vergangenen Wochen vier EU-Staaten einen | |
| palästinensischen Staat anerkannten und die gesamte westliche Welt es sich | |
| zumindest formal weiterhin untersagt, über eine Zweistaatenlösung | |
| hinauszudenken, scheint das Szenario für Gaza post Hamas von westlicher | |
| Seite gesetzt: Eine palästinensische Regierung muss her – wie auch immer | |
| sie aussieht. Ob die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) überhaupt fähig | |
| wäre, beide Gebiete zu kontrollieren und somit für die Sicherheit der | |
| eigenen wie der israelischen Bevölkerung mitzusorgen, daran zweifeln viele | |
| Analysten allerdings. | |
| Wer von Ramallah nach Nablus reist, merkt schnell: Selbst im | |
| Westjordanland, wo die PA offiziell regiert, ist ihre Macht begrenzt. Auch | |
| weil Israel die C-Gebiete kontrolliert, in denen neben israelischen | |
| Siedlungen fast alle wichtigen Verbindungsstraßen zwischen | |
| palästinensischen Städten und Dörfern liegen. So ist es im Oslo-II-Abkommen | |
| vertraglich vereinbart worden. | |
| ## Straßensperren haben zugenommen | |
| Die Hauptverkehrsadern teilen sich Palästinenser und Israelis, an größeren | |
| Kreuzungen patrouillieren israelische Soldaten, den Straßenrand säumen | |
| Werbeplakate für Einfamilienhäuser in Siedlungen und für religiöse | |
| Organisationen. Auch Poster, die Abbas als Teufel darstellen, hängen an den | |
| Leitplanken und Bushaltestellen, von denen aus Busse die Siedler problemlos | |
| und schnell nach Jerusalem und in weitere Städte Israels bringen. Die | |
| Zufahrtsstraßen zu den palästinensischen Städten zieren hingegen meist | |
| Metallschranken in grellen Farben. Das israelische Militär kann sie bei | |
| Bedarf schließen und die Bewohner so von der Außenwelt abschneiden. | |
| Viele Palästinenser konsultieren, bevor sie ins Auto oder in den Bus | |
| steigen, zur Arbeit fahren, einkaufen oder Verwandte besuchen, erst einmal | |
| die vielen Gruppen auf Telegram oder Facebook, die Namen tragen wie | |
| „Situation der Checkpoints und Straßen der Besatzung“. In ihnen werden die | |
| einzelnen Posten aufgelistet: offen, geschlossen, Rückstau. Seit dem 7. | |
| Oktober nehmen die Straßensperren zu, die Öffnungszeiten der Checkpoints | |
| wurden verkürzt. Das Gefühl, dass nicht die PA, sondern [2][Israel ihren | |
| Alltag und ihr Leben bestimmt], teilen im Westjordanland viele. | |
| Und auch viele radikale Kräfte in dem Gebiet untergraben die PA konstant. | |
| Die Hamas, der Palästinensische Islamische Dschihad und andere Milizen und | |
| bewaffnete Parteienflügel kontrollieren gerade im Norden des | |
| Westjordanlands ganze Stadtviertel und Vertriebenencamps. Immer wieder | |
| greifen sie die Sicherheitskräfte der PA an, und immer wieder verhaftet die | |
| PA ihre Mitglieder. Erst am vergangenen Wochenende wurde wohl ein Mitglied | |
| des PA-Geheimdienstes erschossen. | |
| Wie solle die PA denn auch das Westjordanland kontrollieren, wenn sie | |
| systematisch davon abgehalten werde, fragt Musa Hadid. Er sitzt in seinem | |
| Büro in einem guten Viertel von Ramallah, an der Wand hängen traditionelle | |
| palästinensische Stickereien. Hadid, ein griechisch-orthodoxer Christ aus | |
| einer seit Jahrhunderten in Ramallah ansässigen Familie, war lange | |
| Bürgermeister der De-facto-Hauptstadt der palästinensischen | |
| Autonomiegebiete. Er ist eine der grauen Eminenzen der Abbas-Partei Fatah, | |
| und heute Vizevorsitzender des Palestinian National Council, dem | |
| gesetzgebenden Organ innerhalb der Palestine Liberation Organisation | |
| (PLO). | |
| ## Katar und die Türkei stützen die Hamas | |
| Laut Umfragen wollen über 80 Prozent der Befragten im Westjordanland | |
| mittlerweile einen Rücktritt Abbas’. Dass das Vertrauen der Palästinenser | |
| in die PA so niedrig sei, habe Israel selbst herbeigeführt, sagt Hadid – | |
| mit allen negativen Konsequenzen. | |
| Netanjahu verweist mit Stolz darauf, einen palästinensischen Staat durch | |
| seine Karriere hindurch verhindert zu haben. Dabei hilfreich: eine intern | |
| zerstrittene Politik der Palästinenser. | |
| Seth Frantzman, Militäranalyst, unter anderem für die konservative | |
| israelische Zeitung Jerusalem Post, sagt: Die PA sei ein Relikt alter | |
| Zeiten. Begründet im Gaza-Jericho-Abkommen von 1994, sollte sie eine | |
| Vorstufe zu einem palästinensischen Staat sein – zu dem es nie kam. Auf | |
| allen Regierungsgebäuden in Ramallah prangt heute dennoch die Bezeichnung | |
| „Staat von Palästina“. Das Abkommen von 1994 nennt Frantzman ein | |
| „Feigenblatt“. Jetzt sei man eben wieder auf dem Boden der Tatsachen | |
| angekommen: „Viele Länder in der Region wollen eine Ein-Staaten-Lösung, | |
| etwa Iran. Es ist ihr Ziel, die Palästinensische Autonomiebehörde | |
| kollabieren zu lassen.“ | |
| Die Hamas und ihre Hintermänner seien von Anfang an mit dem Ziel | |
| angetreten, einen palästinensischen Staat auf Basis der Oslo-Abkommen zu | |
| verhindern. „Ihre ganze Raison d’Être ist es, die extremen Rechten in | |
| Israel an die Macht zu bringen und eine Zweistaatenlösung unmöglich zu | |
| machen.“ Der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober sei der dritte | |
| Anlauf der Organisation gewesen, diesen Traum zu beerdigen. Nach Kampagnen | |
| und Terror vor 30 Jahren und der gewalttätigen Übernahme des Gazastreifens | |
| im Jahr 2007. Viele Staaten in der Region, sagt Frantzman, stünden an der | |
| Seite der Hamas, nicht der PA – Katar, die Türkei, selbst die Position | |
| Ägyptens sei unklar. | |
| ## Mit Reformen wurde begonnen | |
| Eine Umfrage des [3][Palestinian Center for Policy and Survey Research] vom | |
| März stellte Palästinensern im Westjordanland und Gaza die Frage, wer den | |
| Küstenstreifen nach Kriegsende kontrollieren sollte. 52 Prozent der | |
| Befragten in Gaza sprachen sich für die Hamas aus, 64 Prozent in der | |
| Westbank ebenso. Eine Regierung unter Abbas konnten sich insgesamt gerade | |
| einmal 11 Prozent vorstellen. | |
| Da wirkte es fast komisch, als der neue Premierminister der PA, Mohammed | |
| Mustafa, am Donnerstag erklärte: Man sei gut vorbereitet auf die Geburt | |
| eines palästinensischen Staates, bereit, wieder Einheit unter den | |
| Palästinensern herzustellen und sie mit einer „geeinten“ palästinensischen | |
| Regierung zu vertreten. | |
| Dass vor wenigen Wochen eine neue PA-Regierung ihr Amt antrat, werteten | |
| viele Analysten als ein Zeichen der Vorbereitung auf eine Machtübernahme | |
| der PA in Gaza nach dem Krieg. Mindestens sieben Minister der neuen | |
| Regierung stammen aus Gaza, der als korrupt geltende Premier trat zurück, | |
| die vielfach geforderten „Reformen“ wurden damit begonnen. | |
| Musa Hadid sagt: Die Hamas nach dem 7. Oktober sei nicht die Hamas von vor | |
| dem 7. Oktober. Sie sei nun eher zu Verhandlungen bereit. Und wenn das | |
| palästinensische Volk sie als Vertretung wolle, müsste das respektiert | |
| werden. | |
| ## Die Hamas genießt mehr Rückhalt | |
| Selbst wenn man Hadid Glauben schenkt, dürfte Israel das egal sein. Seth | |
| Frantzman meint, wenn sie einmal in der Regierung sitze, werde man die | |
| Hamas aus dieser nicht mehr los. Wenn man sich die Geschichte des | |
| politischen Islam ansehe, funktioniere er immer wieder so: Mithilfe | |
| moderater Partner an die Macht kommen, diese nach Erstarken wieder | |
| loswerden und die gesamte Macht übernehmen. | |
| Und damit befinden sich alle Beteiligten in einer Art Pattsituation. Die PA | |
| ist schwach und es fehlt ihr an Legitimität. Sie kann gegen die Hamas und | |
| die vielen weiteren inneren politischen Gegner kaum bestehen. Die Hamas | |
| genießt mehr Rückhalt in der Bevölkerung, ist aber für Israel und den | |
| Westen eine rote Linie. Andere Palästinenservertreter, die regierungsfähig | |
| wären, gibt es derzeit nicht. | |
| Trotz alldem sehen sowohl Hadid als auch Frantzman eine Stärkung der PA als | |
| derzeit wohl beste Option. „Sie ist von über 140 Staaten als Vertreter der | |
| Palästinenser anerkannt“, sagt Frantzman. „Man sollte mehr tun, um sie vor | |
| dem Zusammenbruch zu bewahren.“ Und das wäre für die westliche | |
| Staatengemeinschaft grundsätzlich möglich, egal ob Netanjahu – wie in | |
| Gantz’ Ultimatum gefordert – einen Plan vorlegt oder nicht. | |
| 7 Jun 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Gantz-stellt-Netanjahu-ein-Ultimatum/!6008892 | |
| [2] /Fluechtlingscamp-im-Westjordanland/!6010017 | |
| [3] https://pcpsr.org/ | |
| ## AUTOREN | |
| Lisa Schneider | |
| ## TAGS | |
| Palästina | |
| Israel | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Benjamin Netanjahu | |
| Mahmud Abbas | |
| Social-Auswahl | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Benny Gantz | |
| Westjordanland | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Annalena Baerbock | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Israelische Siedlungen in Westbank: Fast 24 Quadratkilometer | |
| Auch 2024 hat Israel große Gebiete im Westjordanland zu Staatsland | |
| umgewidmet. Israels Verbündete müssen eingreifen – auch in seinem | |
| Interesse. | |
| Israels innenpolitische Spaltung: Minister Gantz tritt zurück | |
| Wie Mitte Mai angedroht, verlässt Benny Gantz nun das Kriegskabinett. Und | |
| kritisiert Netanjahu deutlich: Er halte Israel von einem „wahren Sieg“ ab. | |
| +++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++: Ringen um Abkommen geht weiter | |
| US-Außenminister Blinken reist erneut nach Nahost, Katar droht der Hamas | |
| mit Rausschmiss, und vor der deutschen Botschaft in Tel Aviv gab es | |
| Festnahmen nach Protesten. | |
| Krieg zwischen Israel und der Hamas: Vier Geiseln aus Gaza gerettet | |
| Das Militär befreit vier Entführte, darunter Noa Argamani. Die Freude in | |
| Israel ist groß – doch noch immer sind 120 Menschen in der Gewalt der | |
| Hamas. | |
| Hisbollah-Angriffe auf Israel: Netanjahu will zurückschlagen | |
| Israels Regierung erwägt ernsthaft einen größeren Angriff auf die Hisbollah | |
| im Libanon. Das Raketenfeuer der Miliz hatte großflächige Brände | |
| verursacht. | |
| Deutschlands Rolle im Nahost-Konflikt: Gedankenspiele über Gaza | |
| Baerbock erwägt die deutsche Beteiligung an einem Friedenseinsatz in Gaza. | |
| Zahlreiche Bedingungen müssten vorher erfüllt sein. Allen voran: Frieden. | |
| Krieg in Gaza: Gantz spürt Ende der Geduld | |
| Der israelische Politiker Benny Gantz erntet in London und Washington | |
| harsche Kritik an Israels Vorgehen in Gaza. Dort weitet sich der Hunger | |
| aus. |