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# taz.de -- Frankreich vor der Europawahl: Gramsci und Geld
> Der Aufstieg der Le-Pen-Partei hat zwei Ursachen: die Eroberung der
> kulturellen Macht – und die Unterstützung durch einen Medienunternehmer.
Bild: Show und Geld mit Marine Le Pen und Jordan Bardella
Alle paar Tage werden die Ergebnisse von Wahlumfragen publiziert, die alle
zur selben konsternierenden Feststellung führen: In Frankreich ziehen die
Listen der extremen Rechten zusammengezählt annähernd 40 Prozent der
Wählerschaft an, während die Macronisten diskreditiert und die
Linksparteien gespalten sind. Jordan Bardella (28), der Spitzenkandidat des
Rassemblement National (RN), paradiert wie ein Vorabwahlsieger durch das
Land und die Fernsehstudios.
Bardella und seine Partei müssen gar keine aufwendige Kampagne führen, um
am 9. Juni als Sieger dazustehen. Andere machen dies für sie, indem sie die
Gegner der extremen Rechten samt und sonders zu aussichtslosen Verlierern
erklären. Wählerstudien bestätigen, dass die [1][Partei von Marine Le Pen]
seit den Präsidentschaftswahlen von 2017 neue Wählerschichten gewonnen hat,
die im Übrigen nicht unbedingt dieselben Interessen und Forderungen, oft
aber ähnliche Ängste haben: die Bevölkerung der ländlichen und
landwirtschaftlichen Gebiete, ein großer Teil der ehemals konservativ
Wählenden – und immer mehr Jugendliche zwischen 18 und 25. Was noch
unlängst tabu war und in Frankreich als unsichtbare, aber doch vermeintlich
undurchdringliche Glasdecke galt, hat sich wie in Luft aufgelöst.
Mittlerweile wird der Rassemblement National nicht mehr von einer Mehrheit
als Gefahr für die Demokratie betrachtet. Man hat sich an diese angeblich
salonfähig gewordene Rechte gewöhnt. Marine Le Pen hat so oft wiederholt,
sie sei keine Extremistin und keine Rassistin, dass man ihr das offenbar
langsam abkauft. Doch ihr Programm ist unvermindert radikal
nationalistisch, ausländerfeindlich und gehässig antimuslimisch. Aber das
kommt in fast harmloser Form daher; die dahintersteckenden Absichten werden
nicht explizit ausgesprochen.
In ihrer Kommunikation richtet sich diese extreme Rechte an alle
Französinnen und Franzosen, die sich zu kurz gekommen und von der
politischen Klasse betrogen fühlen. Sie wählen den RN als „Alternative“ u…
sagen: „Die sind die Einzigen, die wir noch nicht (an der Macht) hatten.“
Die totale Verharmlosung ist nicht allein der Erfolg einer von Marine Le
Pen systematisch betriebenen Strategie der „Entdiabolisierung“ oder die
Folge eines Glaubwürdigkeitsverlusts sowohl der Linken wie der
traditionellen parlamentarischen Rechten. Damit diese Banalisierung möglich
wurde, musste die Rechte das Terrain dafür ebnen.
Marine Le Pen hatte verstanden, dass sie allein mit Wahlkampagnen niemals
an die Macht kommen würde, solange die konservative Rechte eine formelle
Zusammenarbeit oder Allianz ablehnt. [2][Patrick Buisson], ein ehemaliger
Journalist und 2007 Berater des Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy,
hatte ihr mit seiner Interpretation der Theorie der kulturellen Hegemonie
des italienischen Marxisten Antonio Gramsci ein Strategiekonzept geliefert,
das seither von mehreren Vertretern der extremen Rechten in Frankreich
zitiert wird: „Die Eroberung der kulturellen Macht erfolgt vor der
Übernahme der politischen Macht. Diese wird durch eine konzertierte Aktion
intellektueller Aufrufe erreicht. Sie infiltrieren jegliche Kommunikation,
jede Ausdrucksform und die akademischen Medien“, schrieb der Kommunist
Gramsci im Gefängnis vor seinem Tod 1937. Er dachte dabei an die
proletarische Revolution, die französische Rechte übersetzt das zur ihrer
Strategie der Machtergreifung.
Dass es vor der Eroberung der institutionellen Macht eine breite Zustimmung
in der Bevölkerung braucht, falls eine Revolution nicht ein isolierter
Putschversuch bleiben soll, klingt banal. Die Umsetzung der Theorie durch
eine weit über die Partei hinausgehende Rechte, die sich für die
gesellschaftlichen und sozialen Errungenschaften des französischen
Revolten-Jahres 1968 und für die Überheblichkeit der intellektuellen Elite
revanchieren will, erfolgte mit Hilfe der Finanzkraft des Milliardärs
Vincent Bolloré.
In kürzester Zeit gelang diesem Magnaten, der in Afrika im Transport- und
Rohstoffgeschäft enorm Geld verdient hatte, ein Imperium zu bauen und damit
– ohne dies zu verhehlen – Einfluss in seinem Sinne zu nehmen. Nach der
Übernahme der Lagardère-Gruppe kontrolliert er jetzt neben zahlreichen
Buchverlagen mehrere Fernsehsender (darunter Canal+), Rundfunksender,
Magazine wie Télé-Loisirs, Géo, Gala, Voici, Femme Actuelle, Capital, Paris
Match sowie die landesweit verbreitete Sonntagszeitung Journal du Dimanche.
## Vernetzte Rechte
Diese Medien vervielfachen per Crossmedia-Strategie mit dem gegenseitigen
Zitieren ihre Präsenz, und sie greifen dieselben Themen auf, die weitgehend
in das Bild der extremen Rechten von einer Krise der Politik und eines
moralischen Niedergangs der Gesellschaft passen. Im Vordergrund stehen
darum „Faits divers“, zu großen Gesellschaftsfragen aufgebauschte Meldungen
von Delikten und Verbrechen, die unversehens und vorzugsweise mit der
Migrationsfrage in Verbindung gebracht werden.
Damit gelingt es dieser bestens vernetzten Rechten heute, die öffentliche
Debatte zu bestimmen. Wer die Nachrichten verfolgt, bemerkt rasch, wie die
rechten Medien mit ihren Titeln Pingpong spielen. Wer dagegen in der
Öffentlichkeit noch etwas anderes zu sagen wagt, wird als „Wokist“
verunglimpft und persönlich attackiert. Die öffentlich-rechtlichen Sender
oder privaten Medien, die gegen diesen Strom schwimmen, sind in der
Defensive.
Der erste Schritt zur Hegemonie der radikalen Rechten in der
Meinungsbildung ist längst gemacht. Die Familie Le Pen lässt Antonio
Gramsci postum für den Tipp danken. Noch bleibt dessen Theorie aber auch
aktuell, um im Gegenteil dem Antifaschismus zum Durchbruch zu verhelfen und
den klammheimlichen Versuch der Machtergreifung durch die reaktionäre
Rechte zu demaskieren und zu vereiteln.
25 May 2024
## LINKS
[1] /Rechte-EU-Fraktion-schliesst-AfD-aus/!6012466
[2] /Kommentar-Nicolas-Sarkozy/!5340446
## AUTOREN
Rudolf Balmer
## TAGS
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