| # taz.de -- ChatGPT-Identitätsklau: Wenn Software zu träumen beginnt | |
| > ChatGPT habe ihm seine Identität geklaut, sagt Sebastian Schnitzenbaumer. | |
| > Er will die KI-Firma verklagen. Ein Fall, der ins Grundsätzliche weist. | |
| Bild: Gerade für Musiker ist ihre Identität wichtig. Ein Song schafft es leic… | |
| Erschrocken und belustigt zugleich war Sebastian Schnitzenbaumer, als er | |
| ChatGPT nach seinem eigenen Musikprojekt Belp befragte. Denn die künstliche | |
| Intelligenz antwortete, dass nicht er, der Münchner Musiker, hinter dem | |
| Pseudonym Belp stecke, sondern ein gewisser Marco Guazzone; und die KI | |
| untermauerte diese Aussage gleich noch durch ein cooles Schwarzweißbild. | |
| Dieser Marco Guazzone existiert wirklich, es ist ein italienischer Musiker, | |
| dessen Mainstream-Bombastpop nicht weiter entfernt sein könnte von | |
| Schnitzenbaumers komplexen, den Erwartungen entgegenlaufenden | |
| Techno-Tracks. Der fand das alles bald gar nicht mehr lustig. | |
| Belp sei außerdem Teil des Musikkollektivs Loose Wire Head Radio, behauptet | |
| ChatGPT auch noch. Kein schlechter Name für ein Musikkollektiv – nur leider | |
| diesmal frei erfunden. „Identitätsklau“ nennt der 46-jährige Münchner DJ | |
| und Elektronik-Produzent diese Falschinformation. „Und man würde | |
| normalerweise sagen: Verleumdung“, sagt Schnitzenbaumer. „Ich werde dort | |
| aufgrund von vielen richtigen Informationen mit einer komplett falschen | |
| Identität vermischt. Und das mag niemand.“ | |
| Er prüft eine Klage gegen [1][OpenAI, das US-Software-Unternehmen], das | |
| hinter ChatGPT steht. Vor allem aber will Schnitzenbaumer nun eine Debatte | |
| anstoßen, darüber, was künstliche Intelligenz kann und was nicht. | |
| ## Nichts davon entspricht der Wahrheit | |
| Schnitzenbaumer nutzte ChatGPT 3 für seine Frage, die kostenlose und | |
| derzeit am meisten genutzte Variante der Sprach-KI. Die neuere | |
| Bezahlversion ChatGPT 4 funktioniert bereits besser, sie gibt zum Beispiel | |
| zuverlässig Belps bürgerlichen Namen korrekt an, flunkert aber auch hier | |
| und da. Einmal ist Belp ansässig in Berlin und nutzt traditionelle | |
| Instrumente, ein andermal trägt seine Musik meditative Züge. Nichts davon | |
| entspricht der Wahrheit. | |
| „Halluzinieren“ nennt die Fachwelt das. Der bisher prominenteste Fall: | |
| US-Juraprofessor Jonathan Turley wurde von ChatGPT fälschlicherweise der | |
| sexuellen Belästigung beschuldigt. Das Problem: Diese Halluzinationen | |
| können nicht so einfach erkannt und noch schwerer – genau genommen gar | |
| nicht – gelöscht oder richtiggestellt werden. Denn sie sind aufs Engste | |
| verknüpft mit der Arbeitsweise von [2][KI-Programmen wie ChatGPT], mit | |
| deren Algorithmus. | |
| ChatGPT ist eine KI der Sorte large language model, ein großes | |
| Sprachmodell. Der Algorithmus wurde mit Millionen von Texten im Internet | |
| gefüttert. Und liefert nun Informationen mit Textbausteinen, indem er immer | |
| das nächste wahrscheinlichste Wort sucht. Ob dieses Wort etwas mit der | |
| Wahrheit zu tun hat oder nicht, kann das Programm gar nicht unterscheiden. | |
| Aljoscha Burchardt vom Deutschen Forschungszentrum für künstliche | |
| Intelligenz in Berlin betont, dass large language models vor allem darauf | |
| getrimmt sind, neue Texte zu kreieren, die möglichst überzeugend klingen: | |
| „Wenn man dem Ding jetzt sagt: Aljoscha Burchardt war ein Radrennfahrer im | |
| Frankreich der 1950er Jahre, dann wird eine plausible Geschichte über einen | |
| Radrennfahrer im Frankreich der 1950er Jahre geschrieben. Und das sind dann | |
| eben keine Fakten.“ | |
| ## Plausible Erklärung im System | |
| Anders sei das bei allgemein bekannten Personen, über die sich viele | |
| Informationen im Netz finden. „Wenn man nach Bundeskanzler Olaf Scholz | |
| fragt“, so Burchardt, „kommt da wahrscheinlich etwas Sinnvolleres raus. | |
| Aber wenn man nach Personen fragt, über die es nicht viele öffentliche | |
| Informationen gibt, dann kommt aus dem System einfach das raus, was | |
| möglicherweise plausibel klingt.“ | |
| Für Musikerinnen und Musiker sind solche Halluzinationen besonders fatal, | |
| sagt Sebastian Schnitzenbaumer. Denn deren Identität sei heute wichtiger | |
| denn je. „Musiker und Künstler“, so Schnitzenbaumer, „haben aufgrund der | |
| Entwertung der Kunst in den letzten 10, 20 Jahren gelernt, dass ihr Brand | |
| und ihre Identität das wertvollste Gut ist.“ Wenn jetzt KI auch noch die | |
| Identität klaue und umbaue, würde die Möglichkeit der Vermarktung ihrer | |
| Kunst weiter erodiert. | |
| Tatsächlich sind heute oft die Geschichten hinter den Songs und Alben | |
| entscheidend, die Erzählung des Künstlers. Ein Song schafft es nämlich dann | |
| leichter ins Radio und auf wichtige Playlists, wenn es eine gute Story dazu | |
| gibt. Auch deshalb prüft Schnitzenbaumer eine Klage gegen OpenAI. Die | |
| Nichtregierungsorganisation NOYB um den Österreicher Max Schrems hat das | |
| erst kürzlich angestrengt – weil das Programm ein falsches Geburtsdatum | |
| angab. | |
| Ob die Klage Erfolg haben wird, bleibt zunächst unklar. Aljoscha Burchardt | |
| sieht in solchen Fällen keine direkte Schuld bei OpenAI. „Das Werkzeug | |
| wurde falsch eingesetzt“, erklärt er. Es habe schließlich niemand | |
| behauptet, dass KI-Programme wahrheitsgemäße Artikel schreiben können. | |
| ## Wahrheit suggeriert | |
| Nur über die Argumentation, dass OpenAI nicht gut genug darüber aufgeklärt | |
| habe, wie ChatGPT funktioniert, sieht er eine mögliche rechtliche Handhabe. | |
| Die US-Firma „suggeriere vielleicht dadurch, wie das System sich gibt und | |
| wie das System antwortet, dass es Wahrheit ausgibt“. | |
| Das sieht der Straubinger Bundestagsabgeordnete Erhard Grundl (Bündnis | |
| 90/Die Grünen) ähnlich. Grundl ist Leiter der Arbeitsgemeinschaft Kultur | |
| und Medien der Grünen-Fraktion im Bundestag und Mitglied im Ausschuss für | |
| Kultur- und Medienpolitik. „Sein Werk kann ich schützen“, sagt Grundl über | |
| Schnitzenbaumers Fall. „Aber Fehlinformationen, die dann über ihn in der | |
| Welt sind – das wird sehr schwierig.“ | |
| Die gerade erst verabschiedete KI-Verordnung der EU hat zwar Chatbots wie | |
| ChatGPT im Blick, greift aber in diesem Fall auch nicht. Grundl glaubt, | |
| dass es mehr Medienkompetenz braucht. „Das müssen wir fördern. Da kommt die | |
| Politik ins Spiel.“ | |
| ## ChatGBT: falsch, irreführend oder erniedrigend | |
| Eine Bitte um Stellungnahme bei OpenAI zu den Vorwürfen von Sebastian | |
| Schnitzenbaumer blieb unbeantwortet. Der Sachverhalt ist aber auch in den | |
| USA ein heikles Thema. Die Aufsichtsbehörde FTC (Federal Trade Commission) | |
| hat erst vor Kurzem eine Untersuchung von OpenAI gestartet und dem | |
| Unternehmen einen 20-seitigen Fragenkatalog geschickt. Eine der Fragen | |
| betrifft die Aussagen von ChatGPT über reale Menschen, die falsch, | |
| irreführend oder erniedrigend sind. | |
| Bisher ist es noch nicht weit her mit der allgemeinen Medienkompetenz in | |
| Sachen KI. Denn viele User:Innen nutzen die Programme eben als | |
| Suchmaschine und Informationsquelle. „Das ist super brutal“, erzählt | |
| Aljoscha Burchardt. „Das haben wir untersucht: User nutzen das auch, um | |
| sich über Wahlthemen und Politikerinnen zu informieren. Das hat großes | |
| Potenzial, Unfrieden zu stiften.“ | |
| Hinzu kommt: Künstliche Intelligenz entwickelt sich so rasant wie nie | |
| zuvor. Gerade noch staunte die Welt über ChatGPT 3, schon gibt es einen | |
| ganzen Wald von besseren Sprach-KIs. „Wie wir alle wissen, hat die KI ein | |
| anderes Zeitverständnis als wir“, sagt Erhard Grundl mit Blick auf die | |
| Regulierung durch die Politik. „Wenn heute etwas beschlossen wird, kann es | |
| sein, dass das in vielen Bereichen schon wieder überholt ist. Es muss also | |
| eine ständige Evaluierung stattfinden.“ | |
| Mehr Medienkompetenz, mehr Wissen darüber, was künstliche Intelligenz kann | |
| und was nicht, wie sie funktioniert – das ist im Kern auch das, was der | |
| Münchner Musiker Sebastian Schnitzenbaumer sich wünscht. Denn noch säßen | |
| wir einem veralteten Bild von künstlicher Intelligenz auf, sagt er. | |
| „Popkultur und Science-Fiction-Kultur“, so Schnitzenbaumer, „haben | |
| Computer, Roboter und Androiden oft in ihrer Unfehlbarkeit dargestellt: Der | |
| Computer hat immer recht. Mit ChatGPT passiert genau das Gegenteil.“ | |
| Wir müssten lernen, dass Computer und Softwaresysteme extrem fehleranfällig | |
| sind. „Wir haben hier träumende Software, und wir müssen uns einfach daran | |
| gewöhnen, dass Software bewusst unechte Ergebnisse liefert.“ Sollten wir | |
| also in Zukunft von mehr oder weniger verträumten KIs sprechen? Oder wäre | |
| das nicht auf andere Weise irreführend, weil viel zu vermenschlichend? | |
| ## Kein Unterschied von Fakt und Fiktion | |
| Sollten wir überhaupt von künstlicher Intelligenz sprechen, wenn die | |
| Programme am Ende ja doch wieder nur aus Algorithmen bestehen, die nicht | |
| einmal bei ihren eigenen Kreationen Fakt von Fiktion unterscheiden können? | |
| Aljoscha Burchardt will jedenfalls nicht mehr von „halluzinieren“ sprechen. | |
| „Wenn wir doch alle wissen, dass von generativer KI erzeugte Inhalte nicht | |
| notwendigerweise wahr sind, dann kann man doch einfach sagen, das hier ist | |
| eine automatisch oder statistisch generierte Antwort.“ Vielleicht braucht | |
| es das: unaufgeregte Nüchternheit, was künstliche Intelligenz angeht. Auch, | |
| damit die Musik nicht ein weiteres Mal entwertet wird von den digitalen | |
| Umwälzungen unserer schönen neuen Welt. | |
| 10 May 2024 | |
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