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# taz.de -- Umgang mit Suizid in den Medien: Rufen Sie bitte später zurück
> Medien fügen meist einen Hinweis zur Telefonseelsorge an, wenn sie über
> Suizid berichten. Die hilft Menschen in akuten Krisen aber nur bedingt.
Bild: Bei Unfällen kann man die 112 wählen. Bei Suizidgefahr gibt es noch kei…
Wer journalistisch arbeitet, trägt die Verantwortung, sensibel über Suizid
zu berichten und abzuwägen, ob überhaupt berichtet werden soll. Der
[1][Pressekodex schreibt vor, auf Nennung des Namens, auf Fotos] und die
genaue Tatbeschreibung zu verzichten. Denn mediale Berichterstattung über
Suizid kann andere zur Nachahmung animieren.
Selbst die Methode oder der Ort gleichen oft denen in den Medien, ein
Beispiel ist dafür die ZDF-Fernsehserie „Tod eines Schülers“ aus den
1980ern – in deren Folge es nachahmende Suizide gab. Ähnliches passierte
auch im Sommer 2020 in Japan nach dem Suizid der Schauspielers Haruma
Miura.
Trotzdem wird in den Medien über Suizid berichtet, etwa bei Personen des
öffentlichen Lebens oder bei besonders gravierenden Umständen. Bei Artikeln
über Suizid ist am Ende des Textes oft ein Hinweis auf ein Hilfsangebot für
Leser:innen eingefügt. Dieser Hinweis sieht in vielen deutschen Medien
recht ähnlich aus.
Die taz, tagesschau, Spiegel Online, Süddeutsche Zeitung oder Welt ergänzen
die [2][Nummer der bundeseinheitlichen Telefonseelsorge]: „Haben Sie
suizidale Gedanken oder haben Sie diese bei einem Angehörigen/Bekannten
festgestellt? Hilfe bietet die Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 und
0800/111 0 222. Auch eine Beratung über das Internet ist möglich unter
http://www.telefonseelsorge.de“.
## Schmerz lindern
Diese Nummer ist in den meisten Fällen der einzige Hinweis auf eine
Hilfestelle bei Suizidgedanken. Von der Leser:innenseite wird das
kritisiert. Erst Anfang April bekam die taz Post von einer Person, die es
als „fahrlässig“ bezeichnete, die Nummer als Hilfsoption anzugeben. Sie
habe in den vergangenen fünf Jahren mehrmals vergeblich angerufen. Das
Angebot sei keine gute Hilfe für Betroffene.
Charlotte Riedel, die eigentlich anders heißt, sieht die Auflistung der
Telefonseelsorge ebenfalls kritisch. „Ich hatte auch schöne Gespräche. Wenn
ich jemanden hatte, mit dem ich sprechen konnte, hat es den Schmerz etwas
gelindert“, sagt sie der taz. Doch bis sie jemanden an der Leitung hatte,
dauerte es.
Riedel nimmt die Seelsorge seit etwa sieben Jahren in Anspruch, bis zu
fünfmal im Jahr. „Ich hatte Depressionen, keine konkreten Suizidabsichten,
aber durchaus das Gefühl, nicht weiterleben zu wollen“, sagt sie. Wenn sie
sich in dieser akut bedürftigen Lage befand, musste sie die Nummer der
Seelsorge jedoch mehrmals wählen, bis sich jemand ihrer Probleme annahm.
Ein Kraftakt, den nicht alle mit Depressionen leisten können.
In [3][einem Beitrag der taz erklärte der Vorsitzende der
Telefonseelsorge], dass ihre Kapazitäten nicht ausreichen würden. Allein im
Jahr 2023 15 Millionen Anrufe und 1,1 Millionen Gespräche. Viele
Anrufer:innen würden aufgefordert, es später nochmal zu versuchen.
## Leitungen häufig besetzt
Auf eine taz-Anfrage dazu erklärte Ulrike Mai von der Telefonseelsorge,
dass der Gesprächsbedarf sehr hoch sei. „Die Menschen, die uns erreichen,
bekommen die Zeit, die sie für ihre jeweilige Lage brauchen. Das heißt aber
auch, dass die Leitungen häufig besetzt sind und wir keine Angabe dazu
machen können, wie lange es dauert, bis eine freie Leitung verfügbar ist“,
erklärt Mai.
Die Telefonseelsorge bietet andere Hilfsangebote, etwa Termine via Chat-
und Mail, doch dafür ist eine Anmeldung notwendig und wird nur je nach
Kapazität von Ehrenamtlichen durchgeführt. Riedel habe es aus diesen
Gründen nie in Anspruch genommen: „Wenn ich depressiv bin, habe ich nicht
die Energie, jemandem zu schreiben und auf eine Antwort zu warten. Du weißt
ja gar nicht, wann sie sich zurückmelden.“
Zudem ist das Problem bei der Telefonseelsorge nicht allein mangelnde
Erreichbarkeit. Insbesondere die inhaltliche Kompetenz ist bei schwer
depressiven oder gar suizidgefährdeten Menschen von hoher Relevanz.
Denn die Telefonseelsorge besteht nicht aus professionell ausgebildeten
Psychotherapeut:innen oder Fachärzt:innen. Stattdessen arbeiten dort
300 Festangestellte und über 7.700 Ehrenamtliche. Gewiss sind
Mitarbeiter:innen der Telefonseelsorge geschult, doch ihre Ausbildung
beträgt 120 Stunden. Dies entspricht einer Ausbildungszeit von drei Wochen
bei einer täglich achtstündigen Einführung.
## Wie ein medizinischer Notfall
Wer sich also mit expliziten Suizidgedanken an die Seelsorge wendet, in der
Hoffnung, eine psychologisch professionelle Hilfe zu erhalten, landet nicht
direkt an der richtigen Stelle. Dabei muss bei Anrufen mit akuten
suizidalen Gedanken unmittelbar gehandelt werden.
In Deutschland allein begehen jährlich mehr als 10.000 Menschen Suizid, es
sterben dreimal so viele wie durch Verkehrsunfälle. Die Zahl der
Suizidversuche wird auf 15- bis 20-mal höher geschätzt – so viele, als
begehe ganz Heidelberg oder ganz Potsdam einmal im Jahr einen
Suizidversuch.
Wenn akute Suizidgedanken bestehen, ist es zu spät für eine ehrenamtliche
Seelsorge: Dann muss die Krankheit genauso behandelt werden wie ein
kritischer Unfall, entsprechend sollte auch die Nummer des Notarztes
gewählt werden. Ulrich Hegerl, Professor und Vorstandsvorsitzender der
Stiftung Deutsche Depressionshilfe, erklärt der taz, dass es bislang keine
zentrale Nummer für Suizidalität gibt, die auch von Medien anstelle der
Telefonseelsorge aufgelistet werden könnte.
Er ist überzeugt, dass die Telefonseelsorge „für viele Menschen in Not ein
sehr wichtiges erstes, niederschwelliges Hilfsangebot“ sei. [4][Allerdings
sei es nicht ihre Aufgabe, akut gefährdete Menschen zu behandeln]:
„Menschen mit Depressionen, anderen psychischen Erkrankungen oder
drängenden Suizidgedanken sollten sich möglichst rasch an den Hausarzt,
einen niedergelassenen Psychiater in Wohnortnähe, einen psychologischen
Psychotherapeuten oder an eine psychiatrische Klinikambulanz wenden“, sagt
er. Das sei der schnellste Weg, um rasche Hilfe zu erhalten, eine Diagnose
gestellt und leitlinienkonform behandelt zu werden.
## Alternativen sind schwierig zu finden
Dass die Telefonseelsorge als Hilfsoption aufgelistet wird, hält Mai von
der Telefonseelsorge für sinnvoll. Allerdings plädiert sie auch dafür, dass
daneben auch andere Anlaufstellen aufgelistet werden. Gleichzeitig sei dies
aber auch mit Komplikationen verbunden: „So ist die 112 bundesweit 24/7
erreichbar, aber nicht anonym und von einigen Menschen in suizidalen Krisen
gegebenenfalls unerwünscht, weil die Angst groß ist, dann in eine
Psychiatrie eingewiesen zu werden“, sagt Mai.
Trotz Optionen wie Krisendiensten, die es in einigen Bundesländern gibt,
sei es „für die Medien tatsächlich schwierig, Alternativen zu nennen“.
Der Idee einer zentralen Nummer für Suizidalität, wie von Hegerl erwähnt,
will Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach nachgehen. Anfang Mai
kündigte er die „[5][Nationale Suizidpräventionsstrategie]“ an, die im
Laufe der nächsten Monate in ein Gesetz münden soll.
Es soll neben der Einrichtung von Beratungs- und Kooperationsstellen und
Schulungen auch eine zentrale Krisendienst-Notrufnummer eingerichtet
werden. Ähnlich wie die 110 mit der Polizei oder 112 mit dem Rettungsdienst
verbindet, soll die neue Nummer speziell Fachkräfte erreichen, die im Thema
Suizidprävention geschult sind. Bis die Nummer allerdings in Kraft tritt,
wird es noch eine Weile dauern.
## Neuer Umgang nötig
Bis dahin brauchen Medien einen neuen Umgang mit Hilfsangeboten. Auf einem
Instagrambeitrag zur Entstehung von Depression fügte das Süddeutsche
Zeitung Magazin Anfang April einen Hinweistext hinzu: „Wenn Sie den
Verdacht haben, an Depression zu leiden, ist das Gespräch mit einem Arzt
oder Psychotherapeuten unverzichtbar. In Notfällen wenden Sie sich bitte an
die nächste psychiatrische Klinik oder einen Krisendienst (Adressen finden
Sie zum Beispiel unter www.deutsche-depressionshilfe.de) – oder direkt an
den Notarzt unter der Telefonnummer 112.“
Auf Nachfrage der taz bestätigte das Magazin jedoch, dass es bei Themen,
die Suizid behandeln, auch üblich sei, die Nummer der Telefonseelsorge
aufzulisten.
[6][Spiegel Online geht auf seiner Webseite einen Schritt weiter als andere
Medien und stellt einen Link parat], der zu einer Liste verschiedener
Hilfsangebote führt: Neben der Telefonseelsorge listet die Seite auch ein
muslimisches Seelsorgetelefon und den Hinweis auf ein persönliches Gespräch
etwa mit Psycholog:innen oder Krankenhäusern auf. Diese Methode könnte
als Vorbild für andere Medienhäuser dienen: Eine Webseite einzurichten, die
verschiedene Hilfsangebote in mehreren Sprachen für verschiedene mentale
Stadien und Notlagen bietet.
Allen voran sollte die Notrufnummer stehen. Ferner gibt es diverse weitere
Hilfsangebote wie die der [7][Stiftung Deutsche Depressionshilfe] sowie die
[8][Arche] und [9][MANO Suizidprävention]. Für Beratung für Kinder,
Jugendliche und Eltern gibt es den [10][Verein Nummer gegen Kummer.] Ist
eine solche Webseite einmal eingerichtet, kann der Link in sämtliche
Artikel, die Suizid thematisieren, eingefügt und bei Bedarf überarbeitet
werden. Und sobald die von Lauterbach geforderte zentrale
Suizidpräventionsnummer steht, kann diese auf der Liste über der
Notrufnummer stehen.
Haben Sie suizidale Gedanken? Dann sollten Sie sich unverzüglich ärztliche
und psychotherapeutische Hilfe holen. Bitte wenden Sie sich an die nächste
psychiatrische Klinik oder rufen Sie in akuten Fällen den Notruf an unter
112. Eine Liste mit weiteren Angeboten finden Sie unter
[11][taz.de/suizidgedanken].
13 May 2024
## LINKS
[1] https://www.presserat.de/pressekodex.html
[2] https://www.telefonseelsorge.de/
[3] /Telefonseelsorge-ueberlastet/!6004539
[4] /Zu-wenig-Hilfsangebote/!5968789
[5] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikation…
[6] https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/suizid-hilfe-und-selbsthilfe-bei…
[7] https://www.deutsche-depressionshilfe.de/unsere-angebote
[8] https://die-arche.de/
[9] https://mano-beratung.de/
[10] https://www.nummergegenkummer.de/
[11] /Hilfsangebote-bei-suizidalen-Gedanken/!6009869
## AUTOREN
Shoko Bethke
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