# taz.de -- E-Sport-Verein Eintracht Spandau: Wer wird Deutscher Meister? | |
> Die E-Sport-Branche boomt. Auch der Berliner Verein Eintracht Spandau | |
> will nach oben, gar auf internationaler Bühne angreifen. Kann das | |
> gelingen? | |
Bild: Voll konzentriert: Johannes Werner alias Fun K3y inmitten seiner Teamkoll… | |
Die Stimmung ist gut im „Spandauer Bock“, einer urigen Kneipe mitten in der | |
Altstadt des Berliner Randbezirks. Es ist ein regnerischer Mittwochabend, | |
einige Fans des Vereins Eintracht Spandau stehen vor dem Lokal und grüßen | |
sich. Für ihren Club geht es heute um viel. | |
Die Saison lief durchwachsen, mit einer Prise Glück landete das Team unter | |
den besten fünf in der Tabelle und damit in den Play-offs. Hier geht es nun | |
um die Meisterschaft. | |
An Unterstützung mangelt es nicht: In einem eigens für den Verein | |
reservierten Hinterzimmer drängen sich knapp 50 Leute, viele in Trikots, | |
manche mit Schals und anderen Devotionalien. Auch der Liedermacher | |
Lukas-Ralf Ligmann – Künstlername: Lukas Mückenfett – ist vor Ort. Er hat | |
den Song „Spandau“ geschrieben, der zur Vereinshymne avancierte. Auf seiner | |
Akustikgitarre wird er das Lied heute mehrfach spielen, und jedes Mal | |
stimmt ein beherzter Chor aus überwiegend jungen Männern mit ein: „Wo die | |
Havel kreuzt die Spree, von Berlin aus jwd, wo die Zitadelle rockt, und die | |
Eintracht uns lockt, da ist Spandau, da sind wir, Spandau, Spandau, wir | |
lieben dir.“ | |
Dass man hier vom Berliner Zentrum aus gesehen tatsächlich „jwd“, also | |
„janz weit draußen“ ist, zeigt sich schon an den Getränkepreisen: Das Pils | |
vom Fass für unter vier Euro fließt reichlich, ansonsten gibt es Cola und | |
Alkoholfreies, hier und da eine Zigarette. Manche Blicke wandern auf den | |
großen Bildschirm in einer oberen Ecke des Raumes. | |
Gleich geht das Spiel los. Zu sehen gibt es aber weder Fußball, Handball | |
noch Basketball – nein, überhaupt kein Ball wird hier gleich die Atmosphäre | |
bestimmen. Vielmehr sitzen die Spieler des Vereins nur einige hundert Meter | |
weiter in einem Bürokomplex mit ihrem Gaming-Equipment vor ihren Computern. | |
Gezeigt wird im „Bock“ ein E-Sport-Turnier. | |
## 100 Millionen Zuschauer*innen | |
Gespielt wird „League of Legends“. Es ist ein | |
Multiplayer-Echtzeitstrategiespiel mit Fantasywelt-Thematik, das mit | |
etlichen Ligen weltweit zu den meistgespielten Computergames überhaupt | |
zählt. | |
Die Zuschauerzahlen für die Weltmeisterschaften können sich mit analogen | |
Profisport-Ligen messen: Das Finale der League-of-Legends-WM des Jahres | |
2019 verfolgten weltweit rund 100 Millionen Zuschauer*innen. Eintracht | |
Spandau spielt in der Prime League, der höchsten deutschsprachigen Liga für | |
League of Legends. | |
Der Verein entstand als gemeinsames Unterfangen von Jung von Matt Nerd, | |
einer auf Gaming spezialisierten Subfirma der Hamburger Werbeagentur, und | |
des Marketingunternehmens „Instinct3“. Mitgründer von Instinct3 ist der | |
Webvideoproduzent und Unternehmer Maximilian Knabe, der im Netz als | |
„HandOfBlood“ oder kurz „Hänno“ auftritt. | |
Knabe hat selbst lange League of Legends gespielt, fungiert mit seiner | |
Reichweite nunmehr aber als eine Art Aushängeschild des Vereins. Er | |
kommentiert die Spiele auf der Streaming-Plattform Twitch, gibt Interviews, | |
füllt seine Social-Media-Kanäle mit Inhalten von Eintracht Spandau. | |
2021 stellte er den Verein erstmals auf seinem Yotube-Kanal mit 2,71 | |
Millionen Abonnent*innen vor: In seiner Rolle als fiktiver | |
Vereinspräsident im schlecht sitzenden karierten Anzug, der Pressefragen | |
schnodderig abwehrt und den Anglizismus „E-Sport“ so deutsch wie möglich | |
ausspricht. | |
## Ein wenig Ironie und viel Professionalität | |
In seiner Figur spiegelt sich der Spagat, der Eintracht Spandau | |
auszeichnet. Auf den ersten Blick wirkt der Club wie ein | |
Entertainmentprojekt – ein Gamer-„Clan“, wie man vor einigen Jahren zu | |
sagen pflegte, der unernst persifliert, was sonst an Ernst nicht arm ist: | |
traditionelle deutsche Vereinskultur. | |
Hinter dem kumpeligen, manchmal bewusst dilettantischen Gebaren steckt | |
allerdings eine hohe Professionalisierung und erkennbar viel Arbeit, vor | |
allem Öffentlichkeitsarbeit. | |
Und die wirkt. Drei Jahre nach der Gründung hat der Verein ein Team, einen | |
Coach, Sponsoren, eine eigene Hymne, ein Logo, eine Vereinskneipe, | |
Merchandise – und natürlich Fans. Die erwarten von ihrem Verein nun, dass | |
sich der öffentliche in sportlichen Erfolg übersetzt. Ein Sieg in der Prime | |
League wäre der erste Titel des Vereins. | |
Die in diesem Jahr von der Techniker Krankenkasse gesponserte Liga schüttet | |
insgesamt 20.000 Euro Preisgeld aus, für den ersten Platz gibt es 8.000 | |
Euro. Viel wichtiger aber: Möglich wäre auch eine Qualifizierung für die | |
internationalen Meisterschaften wie die EMEA Masters, bei der die besten | |
Teams aus 13 europäischen Ligen gegeneinander antreten. Preisgeld für den | |
Erstplatzierten hier: 20.000 Euro. Das gelang dem Verein in den vergangenen | |
Jahren bislang nur einmal, 2021. Die aktuelle Saison lief bislang | |
schleppend. | |
Ein Blick zurück. Dezember 2023. Dutzende kleine Dosen koffeinhaltiger | |
Limonade stehen sauber nebeneinander aufgereiht an der Wand der Berliner | |
Veranstaltungshalle Velodrom. Mehrere hundert Meter lang ist die Schlange, | |
hier warten vor allem junge Menschen zwischen 18 und Mitte 30 in der Kälte | |
auf ihren Einlass. | |
Das Event „Red Bull League of Its Own“ war innerhalb von drei Stunden | |
komplett ausverkauft, die Tickets kosten 30 Euro das Stück. Einen | |
Energy-Drink wird man gut gebrauchen können: Es ist 12 Uhr mittags, und | |
das, was hier gleich vor 7.000 Besucher*innen passieren wird, soll bis | |
mindestens 23 Uhr dauern. | |
## Und immer wieder: „Wo die Havel kreuzt die Spree …“ | |
An der Schlange vorbei zieht ein kleiner Trupp mit braun-blauen Trikots, | |
Schals und Weihnachtsmützen. Einer hat ein Megafon dabei und ruft die | |
Männer dazu auf, ihm zum VIP-Eingang zu folgen. Die Gruppe stimmt einen | |
Gesang an: „Wo die Havel kreuzt die Spree …“ | |
Das Turnier im Velodrom ist kein Ligaspiel, vielmehr handelt es sich um | |
eine Art Eventmatch mit Promifaktor. Eintracht Spandau hat aber trotzdem | |
großes Interesse an einem Erfolg. Der Star des Abends ist der Südkoreaner | |
Lee Sang-hyeok alias Faker. Mit seinem Team „T1“ wurde der 28-Jährige vier | |
Mal Weltmeister, gewann in seiner Laufbahn insgesamt 1,2 Millionen | |
US-Dollar Preisgeld und gilt derzeit als bester League-of-Legends-Spieler | |
überhaupt. | |
Ihn einmal live spielen zu sehen, vielleicht ein Foto mit dem Champion zu | |
ergattern, das ist das Ziel vieler an diesem Tag – nicht nur der Fans, | |
sondern auch der konkurrierenden Spieler. | |
„Er ist so eine Art Lionel Messi des E-Sport, im normalen Alltag würde man | |
nie gegen Faker spielen“, sagt Christian Baltes im Vorfeld des Turniers. | |
Baltes spielt nicht selbst bei Eintracht Spandau, begleitet den Verein | |
dennoch von Anfang an. Er ist Product Director und steuert unter anderem, | |
wie der Verein sich präsentiert. Das Spiel im Velodrom habe „keinerlei | |
sportliche Relevanz“, sagt Baltes, der PR-Effekt könnte dennoch groß sein. | |
## Schulterblick verboten | |
In einem Vorausscheid spielt Eintracht Spandau gegen das Team Berlin | |
International Gaming – ein Stadtderby. Der Gewinner darf gegen die | |
südkoreanischen Superstars ran. Vier riesige, hochaufgelöste Bildschirme | |
schweben über der zentralen Bühne in der Veranstaltungshalle und zeigen das | |
Match. Darunter nehmen die je fünf Spieler eines Teams mit dem Rücken | |
zueinander an Computern Platz. | |
Zwischen ihnen: drei Schiedsrichter*innen, die darauf achten, dass das | |
umfangreiche Regelwerk eingehalten wird, dass die Teams keinen Blick auf | |
die gegnerischen Bildschirme werfen und dass jeder allzeit seine Kopfhörer | |
trägt. Ein einziges Wort, ein Schulterblick könnten reichen, um die | |
gegnerische Taktik zu erahnen. | |
League of Legends ist ein schnelles, strategisches und komplexes Spiel. Im | |
Profibereich spielt man in der Regel fünf gegen fünf. Das quadratische, | |
bewaldete Spielfeld, die „Kluft“, ist diagonal in zwei Hälften unterteilt. | |
Ziel ist es, mit Taktik und Teamarbeit in die gegnerische Basis | |
vorzudringen und sie zu zerstören. Die Spieler*innen wählen zuerst einen | |
von über 150 sogenannten Champions: Rollenspiel-Charaktere, vom | |
Schwertkämpfer über eine magische Katze bis zum menschenfressenden | |
Flussgeist, die unterschiedliche Eigenschaften und Fähigkeiten aufweisen. | |
Zudem können sie im Lauf des Spiels mit über 200 weiteren Gegenständen | |
ausgestattet werden, die Einfluss auf deren Verhalten haben. Zu den | |
Charakteren gibt es Hintergrundgeschichten, für das Spiel sind sie aber | |
weitgehend irrelevant. | |
Ein zentrales Element – wie einen Ball – gibt es nicht, dafür drei | |
Haupt-Angriffslinien: eine obere („top lane“), eine mittlere („mid lane�… | |
und eine untere („bot lane“), zusätzlich zu einer Art Libero-Position, dem | |
„Jungler“. Spieler*innen von League of Legends spezialisieren sich in | |
der Regel auf eine der Positionen, ganz wie im analogen Teamsport. | |
## „Ganking“, „Cooldown“: die Sprache ist eigen | |
Schnell werden die Kommentator*innen atemlos beim Versuch, in einer | |
farblich überbordenden Gleichzeitigkeit der Ereignisse das Wichtigste | |
hervorzuheben. Sie sprechen von „Ganking“, „Ulti“, „Cooldown“. Für | |
Außenstehende ist vieles, was sie sagen, auch unabhängig vom Englisch eine | |
Fremdsprache, denn Spielszenen und Elemente von League of Legends haben ein | |
eigenes Vokabular. | |
Ein typischer Satz aus der Nachberichterstattung zum Spiel, hier vom | |
E-Sport-Magazin Fragster, liest sich so: „Dadurch haben wir Top Laner Choi | |
‚Zeus‘ Woo-je mehrmals auf AD-Carrys gesehen und auch Jungler Mun ‚Oner‘ | |
Hyeon-jun hat mit unkonventionellen Picks für unterhaltsame Games gesorgt!“ | |
Doch trotz seiner eigentümlichen Sprache ist E-Sport längst kein nischiges | |
Hobby mehr. Es ist ein sportliches Phänomen mit Breiten- und | |
Proficharakteristik sowie einem wirtschaftlichen Ökosystem aus | |
Spieler*innen, Sponsoren, Hardware-Herstellern und Medienkanälen. | |
Die erste deutsche E-Sport-Liga, die Electronic Sports League alias ESL, | |
gründete sich im Jahr 2000. Gespielt wurden hier anfangs vor allem Shooter | |
wie Counter-Strike oder Quake sowie Echtzeit-Strategiespiele wie StarCraft, | |
mit der Zeit kamen etliche weitere kompetitive Titel dazu. Das Unternehmen | |
aus Köln wandelte sich von einer Liga zum Veranstalter, schrieb lange rote | |
Zahlen, wurde aber 2022 von einer saudi-arabischen Firma aufgekauft – für | |
eine Milliarde Dollar. | |
Dass sich über den E-Sport eine große Zahl von Menschen erreichen und Geld | |
verdienen lässt, haben mittlerweile viele erkannt. „Das Wirtschaftswachstum | |
in diesem Bereich ist regelmäßig zweistellig, wovon viele andere Branchen | |
träumen“, sagt Jana Möglich. | |
## Weltweiter Umsatz des E-Sport-Markts:; Knapp 4 Milliarden | |
Sie promoviert zum Thema E-Sport an der Europa-Universität Flensburg, ist | |
selbst ehemalige E-Sportlerin. „Die Events werden immer größer, die | |
Spieleranzahl wird immer größer, die Preisgelder immer immenser“, sagt | |
sie. | |
Deutschland zählt neben China, Südkorea und den USA zu den vier größten | |
Märkten. Der weltweite Umsatz des E-Sport-Markts, welcher Einnahmen aus den | |
Bereichen Sponsoring, Tickets, Werbung, Streaming- und Medienrechte sowie | |
Wetten umfasst, wird für das laufende Jahr auf etwa 3,9 Milliarden Euro | |
geschätzt. | |
Großevents wie das von Red Bull gesponserte Turnier zeigen, welche Relevanz | |
E-Sport in den vergangenen Jahren erlangt hat und was sich Unternehmen | |
verschiedenster Branchen von einem Einstieg in dieses Segment erhoffen. Wer | |
im Velodrom nah an der Bühne sitzt, kann deutlich das angestrengte Klicken | |
und Klackern des Gaming-Equipments hören. | |
Eine Gaming-Tastatur kostet circa 200 Euro und ist mit mechanisch | |
gefederten Tasten für hohe Belastungen und kürzeste Reaktionszeiten | |
optimiert. Hinzu kommen: Maus, Headset, Bildschirm und natürlich ein | |
Computer mit Hardware der neuesten Generation. Alles zusammen kann leicht | |
mehrere Tausend Euro kosten. | |
Immer wieder schwillt die Stimmung an, wenn der Lebensbalken eines | |
Champions bedrohlich abnimmt, bis die Halle bei einem „Kill“ laut jubelt. | |
Nach wenigen Minuten gibt es den ersten Applaus für das Team von Eintracht | |
Spandau, begleitet von hörbaren Trommeln und Fangesängen im Saal. Spannung | |
und Stimmung bleiben durchweg hoch, am Ende verliert das Team aber gegen | |
die Konkurrenten aus Berlin. Die Chance auf das große Duell gegen die | |
Stars aus Südkorea ist dahin. Dennoch skandiert die Fankurve aus etwa 30 | |
Spandau-Anhängern hörbar: „Eintracht Spandau olé!“ | |
So leicht lässt sich der Verein schließlich nicht unterkriegen, und schon | |
kurz darauf geht es anders sportlich weiter. Im Januar 2024 sitzt Max Knabe | |
erneut als Vereinspräsident vor der Kamera und verkündet in gestelztem | |
Deutsch, „mit sofortiger Wirkung“ werde die Sektion „Eintracht Spandau | |
Fußball“ gegründet. | |
Wenige Minuten später schüttelt der fiktive Vereinspräsident Knabe dem | |
echten Ex-Fußballprofi Hans Sarpei die Hand und stellt diesen als | |
sportlichen Leiter vor. Was hier unterhaltsam präsentiert wird, ist erneut | |
alles andere als ein Witz: Eintracht Spandau dürfte der erste deutsche | |
E-Sport-Verein sein, der in den analog gespielten Fußball einsteigt. | |
Andersherum ist das die Regel: Schalke 04, der VfL Wolfsburg, Hertha BSC, | |
RB Leipzig – alle diese Vereine haben seit einigen Jahren eine eigene | |
E-Sport-Division. Ab der Saison 2023 hat die „DFL eSport“ alle Clubs der 1. | |
und 2. Bundesliga dazu verpflichtet, E-Sport-Abteilungen zu gründen. | |
Gespielt wird dort vor allem der Fußballsimulator Fifa. Man erhofft sich | |
Zugang zum jungen, zockenden Publikum. | |
## Jetzt auch noch Baller League | |
Nun steigt Eintracht Spandau in die Baller League ein, eine | |
Hallenfußball-Liga, die 2024 von den Fußballprofis Lukas Podolski und Mats | |
Hummels gegründet wurde. Die Kooperation mit Hans Sarpei, dem | |
deutsch-ghanaischen Verteidiger, um den sich 2010 nach seinem Wechsel zu | |
Schalke ein kleiner Internet-Kult bildete, passt zum Image von Eintracht | |
Spandau. | |
Andere setzen ebenfalls auf das Prinzip „Influencer plus Sport“: Comedian | |
und Podcaster Felix Lobrecht sowie Rapper Kontra K managen das Team „Beton | |
Berlin“, Streamer Jens „Knossi“ Knossalla und Fußballprofi Max Kruse fü… | |
„Hollywood United“. | |
Die Fans des Vereins haben nun viel zu tun, denn seit dem Einstieg in die | |
Baller League fahren sie zweigleisig. Einer, der beim Streaming im | |
Spandauer Bock fast immer mit dabei ist, hört auf den Namen „Tiger“. | |
Der 32-jährige gebürtige Spandauer singt regelmäßig die Hymne vor, fiebert | |
bei den Spielen mit, koordiniert Fan-Aktionen. Wie kam es dazu? „Ich bin | |
32, und damit genau in dem Alter, in dem man mit Computerspielen groß | |
geworden ist“, kommentiert er am Telefon. | |
Die ersten Spiele schaute er noch mit fünf Leuten in der Kneipe – einen | |
fest installierten Bildschirm gab es da noch nicht, die Fans brachten einen | |
Laptop mit. Wenn die Saison läuft, verbringt er zwei bis drei Stunden die | |
Woche mit dem Fan-Dasein, neben seinem Beruf als Gewerkschaftssekretär. Und | |
natürlich spielt er selbst. | |
Wer den kräftigen Mann in seiner Jeansweste mit dem roten Stück Stadtmauer | |
des Eintracht-Logos auf dem Rücken sieht, käme leicht auf die Idee, es mit | |
einem waschechten Fußballfan zu tun zu haben, aber seine Leidenschaft gilt | |
dem E-Sport. Dass die Baller League stark Influencer-getrieben ist, findet | |
er „fragwürdig“, aber: | |
„Es hat die Reichweite von Eintracht Spandau definitiv vergrößert, etwa 30 | |
Prozent der Fans kommen aus dem Baller-League-Umfeld.“ Und das zählt: „Je | |
weiter wir verbreiten können, dass es hier so etwas gibt, desto besser.“ | |
## Ampel will gemeinnützigen E-Sport | |
Die Frage, ob E-Sport eigentlich „richtiger“ Sport ist, beschäftigte | |
bereits die Bundespolitik. Im aktuellen Koalitionsvertrag steht der Satz: | |
„Wir […] machen E-Sport gemeinnützig.“ Damit wäre ein wichtiger Schritt | |
getan, um den digitalen Sport auf die gleiche Stufe wie traditionelle | |
Sportvereine zu stellen. | |
Ein Beispiel: Viele deutsche E-Sport-Teams beschäftigen | |
Profispieler*innen aus dem Ausland, anders als im anerkannten Sport | |
haben diese aber keine Möglichkeit, ein Sportlervisum zu beantragen. | |
Umgesetzt wurden die Versprechen im Koalitionsvertrag bislang nicht. | |
Auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hat 2018 ein Positionspapier | |
verabschiedet, laut dem er E-Sport vor allem wegen der fehlenden | |
Gemeinnützigkeit nicht allgemein als „Sport“ anerkennen will. Nur die | |
„virtuellen Sportarten“, also etwa der Fußballsimulator Fifa, seien | |
„anschlussfähig an die Vereine und Verbände des organisierten Sports“, so | |
der DOSB. | |
Insbesondere mit Spielen, in denen Gewalt eine Rolle spielt, will der Bund | |
nichts zu tun haben, wenngleich Shooter wie Counter-Strike mit über 10.000 | |
Profispieler*innen weltweit zu den beliebtesten E-Sport-Games zählen. | |
Von derlei Kämpfen um Deutungshoheit lassen sich die Fans von Eintracht | |
Spandau nicht die Stimmung vermiesen. Zurück in den „Spandauer Bock“, April | |
2024, Play-offs, Viertelfinale: Der Verein könnte heute einen großen | |
Schritt in Richtung Meistertitel und internationale Qualifizierung | |
machen. Auf dem Bildschirm sind Max „Hänno“ Knabe und sein Vereinskollege | |
Daniel „Broeki“ Broekmann zu sehen. | |
Sie befinden sich nur wenige hundert Meter von der Kneipe entfernt in ihrem | |
Studio und kommentieren für die nächsten drei Stunden das Spiel, inklusive | |
Vor- und Nachberichterstattung. Seine komödiantische Rolle als „Präsident | |
Knabe“ hat Hänno heute abgelegt, vielmehr bespricht er mit einigem Ernst | |
die Aufstellung der Gegner und die Chancen für die Eintracht. | |
## Gute Stimmung im „Bock“ | |
Gespielt wird gegen das Team „Austrian Force“, eine österreichische | |
Mannschaft, die noch neu in der Liga ist. „Entsprechend müssen wir ihnen | |
heute mal zeigen, dass man als neuer Mitstreiter in der Prime League sich | |
auch erst mal ein bisschen bücken muss“, kommentiert Hannö süffisant. | |
„Als Traditionsverein ist das auch unsere Aufgabe“, ergänzt Broeki. Nur | |
Spaß, freilich. Gegnerschaften im E-Sport, sowohl unter Vereinen als auch | |
Fans, sind in der Regel mehr Show als alles andere. | |
Derweil wird es laut im Spandauer Bock: „Aufstehen!“, in der Kneipe erhebt | |
sich jeder. Tiger, dessen Stimmvolumen problemlos mit dem traditioneller | |
Fußball-Ultras mithalten kann, stimmt die Hymne an. Dann beginnt das Spiel. | |
Einige Fans, die etwas weiter hinten im Raum sitzen, schauen den Stream | |
zusätzlich auf ihrem Smartphone, um kein Detail zu verpassen. Ein Tablett | |
mit Tequila wird gereicht. Die Stimmung ist gut. Nach knapp 30 Minuten | |
gewinnt Eintracht Spandau die erste Runde. | |
Beim Beginn der zweiten Runde klingt die Hymne schon energischer, der Rauch | |
im „Bock“ ist etwas dicker. „Wie lang kann man so zocken, bis man sich den | |
Rücken kaputt gemacht hat?“, fragt ein Fan mit Blick auf den Spandauer | |
Spieler Max Rassi alias „Vertigo“, der grundsätzlich mit angewinkelten | |
Knien vor dem Bildschirm sitzt. | |
„Ich geb ihm noch zwei Jahre“, entgegnet ein anderer Freund der Eintracht, | |
in der Hand ein fast leeres Bier. Klischees über unsportliche Gamer*innen | |
halten sich hartnäckig, tatsächlich haben aber viele E-Sportler*innen ein | |
Fitness- und Ernährungsprogramm. Das Potenzial haben auch Versicherer | |
erkannt: Die Techniker Krankenkasse sponsert bereits seit 2019 | |
E-Sport-Ligen. | |
Nach 90 Minuten, vielen Olés und Getränken ist klar: Eintracht Spandau | |
gewinnt 3:0, steht im Halbfinale und hat eine realistische Chance, sich für | |
den Europapokal zu qualifizieren. Im „Bock“ wird sich noch mal zugeprostet, | |
dann die Hymne gesungen. Von zehn Mannschaften in der Liga sind jetzt nur | |
noch drei übrig. | |
## Struktureller Männerüberschuss | |
Während in der Fankneipe auch Frauen Gefallen an den Spielen der Eintracht | |
finden, besteht die Liga selbst mitsamt ihren Teams fast ausschließlich aus | |
Männern. Und das obwohl es eine strikte, strukturelle Geschlechtertrennung, | |
wie sie im traditionellen Sport üblich ist, im E-Sport nicht gibt. | |
Jana Möglich hat unter anderem ihre Bachelor- und Masterarbeit zu den | |
Themen „Female Gaming“ und „Geschlechtertrennung im E-Sport“ geschrieben | |
und beschäftigt sich forschend mit staatlichen E-Sport-Förderungen. | |
Zur Geschlechterungleichheit sagt sie: „Das fängt bereits bei der Erziehung | |
an, wenn es darum geht, Hobbys zu fördern von Jungs und Mädchen. In den | |
Interviews, die ich in verschiedenen Kontexten mit Spielerinnen geführt | |
habe, gaben die meisten der Mädchen und Frauen an, über den Bruder, den | |
Freund oder den Vater zum Gaming gekommen zu sein, also immer über einen | |
männlichen Faktor.“ | |
Schon seit Längerem versuchen Entwicklerstudios, Publisher und andere | |
Akteure aus der Videospielbranche, Gaming für Frauen attraktiver zu | |
gestalten. Mit einigem Erfolg: Jüngeren Studien zufolge ist das | |
Geschlechterverhältnis unter Hobby-Gamer*innen mittlerweile nahezu | |
ausgeglichen. In professionellen E-Sport-Teams sind Frauen aber trotzdem | |
eine Seltenheit. | |
Unter den 500 bestverdienenden E-Sportlern, welche das Portal „Esports | |
Earnings“ listet, befindet sich keine einzige Frau. Die Gesamtverdienste | |
rangieren von 7 Millionen bis knapp unter 500.000 US-Dollar. | |
„Diese Ungleichheiten sind vorrangig systematisch bedingt, und Systeme zu | |
ändern – das dauert halt“, sagt Jana Möglich, „aber es gibt ein paar | |
Leuchtturmprojekte, die heutzutage zeigen, dass die | |
Geschlechterdiversitätsförderung wirklich ernst gemeint ist.“ | |
Das US-amerikanische Unternehmen Riot Games, das League of Legends | |
entwickelt hat, versuchte bereits mit verschiedenen Methoden, Frauen das | |
professionelle Gaming nahezubringen. Ein Ansatz: rein weibliche | |
Veranstaltungsformate, die Teilnehmerinnen ermutigen und vor Sexismus | |
schützen sollten. „Das große Ziel sollte natürlich sein, dass alle | |
miteinander spielen und nicht exklusive Events stattfinden“, sagt Jana | |
Möglich. | |
Alle miteinander spielen sie derweil auch in Spandau. Nur zwei Tage später | |
findet bereits das Halbfinale statt. Gegen das deutsche Team NNO (No Need | |
Orga) läuft es anfangs nicht ganz so geschmeidig. Drei Siegpunkte braucht | |
es für den Einzug ins Finale, doch die ersten zwei Runden verliert die | |
Eintracht. Weiterkommen kann der Verein jetzt also nur noch, wenn er drei | |
Runden in Folge gewinnt. „Ich will, dass ihr jetzt mal alle richtig in die | |
Tasten haut“, ruft Max Knabe in dem Stream, wissend, dass ihn zwar die | |
Tausende Live-Zuschauer*innen inklusive der Fans im „Bock“ hören können, | |
nicht aber das Team selbst. | |
Die Mannschaft ist dafür hochkonzentriert. Wie an jedem Spieltag haben die | |
fünf Spieler heute schon viel Zeit miteinander verbracht, mit ihrem Coach | |
die Taktik besprochen, vergangene Spiele analysiert, Trainingsspiele gegen | |
eine andere Mannschaft („Scrim“) absolviert und eine gesunde Mahlzeit vom | |
eigens angestellten Koch serviert bekommen. Während der laufenden Saison | |
spielen sie täglich mehrere Stunden. | |
Einer der Spieler ist der 26-jährige Tristan Schrage alias „PowerOfEvil“ | |
aus dem hessischen Bad Soden. Er spielt erst seit 2023 bei Eintracht | |
Spandau, wurde – ganz wie im Fußball – von einem anderen Team angeworben | |
und unter Vertrag genommen. Als Einziger hat er schon an den „Worlds“, der | |
League-of-Legends-Weltmeisterschaft, teilgenommen und stand beim | |
US-Top-Team SoloMid unter Vertrag. | |
## „So sehen Sieger aus“ | |
Damit gilt er als derzeit stärkster Spieler im Kader und zeigt das heute | |
auch: Nach fast vier Stunden holen die Berliner einen 0:2-Rückstand auf – | |
und stehen schließlich mit dem Ergebnis 3:2 im Finale. | |
Im Stream sieht man fünf junge Männer, die sich energisch die Headsets vom | |
Kopf reißen, von ihren Stühlen stürmen und sich bald darauf in den Armen | |
liegen. Nebenan ist die Freude ebenfalls riesig: Im „Bock“ springen die | |
Fans. Nun geht es Schlag auf Schlag: Das Finale findet eine Woche später | |
statt. Nach einer eher schleppend begonnenen Saison könnte Eintracht | |
Spandau dann den ersten Titel gewinnen. | |
Der Pokal für den Gewinn der Prime League ist eine eher grotesk wirkende | |
Skulptur: kein richtiger Kelch, eher eine aus vergoldeten, langen Zacken | |
bestehende, etwa ellenhohe Plastik mit einem blauen, kristallartigen Kern. | |
Der Trophäe, die aussieht, als könne man sich damit bei falschem Gebrauch | |
erheblich verletzen, beschied Kommentator Hänno im Vorfeld eine Ähnlichkeit | |
mit einer „Analsonde“ und beschwerte sich scherzhaft, dass man daraus nicht | |
gut „saufen“ könne. | |
Aber das ist jetzt egal. „So sehen Sieger aus“, schallt es am 12. April | |
2024 durch die Spandauer Altstadt. Die Sonne ist schon lange untergegangen, | |
aber die Fans und das Team wagen noch einen lautstarken Marsch durch die | |
sonst eher ruhige Fußgängerzone. | |
Nach einem packenden, knapp vierstündigen Match gegen das Team SKP hat | |
Eintracht Spandau die Prime League gewonnen und darf sich fortan Deutscher | |
Meister nennen. Der Pokal steht praktischerweise gleich nebenan, im Studio | |
der E-Sports-Marketingagentur „Freaks 4U Gaming“ auf der anderen Seite der | |
Havel. | |
Nun muss Christian Baltes, der unterdessen Co-Geschäftsführer geworden ist, | |
liefern. Wenn Eintracht Spandau Meister würde, meinte er einmal, springe er | |
in die Havel. Und das tut er dann auch, unter grölendem Applaus, kopfüber | |
in das frühlingsfrische Berliner Fließgewässer. | |
Der „Bock“ schließt um 0 Uhr, da sind die Fans mit dem Feiern aber noch | |
nicht fertig. Irgendein Lokal wird sie noch rein- und ein paar Mal ihre | |
Hymne singen lassen. | |
Eine Woche später zieht Eintracht Spandau in die EMEA Masters ein – und | |
gewinnt wenig später auch den Europapokal erstmalig. Geradezu überrascht | |
vom Erfolg organisieren die Fans am letzten Aprilsonntag in der Spandauer | |
Altstadt eilig ein Public Viewing, am Abend schaut dort der | |
Bezirksbürgermeister persönlich vorbei und gratuliert zum Double. „Von | |
Berlin aus jwd“ – so wahr wie jetzt war diese Zeile nie. | |
7 May 2024 | |
## AUTOREN | |
Konstantin Nowotny | |
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