| # taz.de -- Triggerwarnungen auf Netflix: Lieber gespoilert als retraumatisiert | |
| > Triggerwarnungen spoilern nicht. Sie warnen eher vor dem, was an | |
| > Nebenwirkungen bei einem Medienprodukt vorkommen kann, meint unsere | |
| > Autorin. | |
| Bild: Triggerwarnungen beim Streaming sind vergleichbar mit Hinweisen auf Leben… | |
| Neulich erzählte ein Freund, er sei gespoilert worden. Er hatte sich einen | |
| Film auf Netflix angeschaut, doch noch bevor der losging, blendete der | |
| Streaminganbieter eine Warnung ein: Der Film thematisiere Gewalt, | |
| Vergewaltigung, Mord. Der Freund empörte sich. So habe er ja schon gewusst, | |
| was in dem Film passieren würde. | |
| Mit seiner kritischen Haltung ist er nicht allein: So kommentierte [1][Jürn | |
| Kruse bei Übermedien], dass Netflix neben Gewalt, Suizid und Essstörung | |
| auch vor Alkoholmissbrauch und Gewalt an Kinder warnen müsste, denn das | |
| seien ja ebenfalls sensible Inhalte. Allerdings bestünde dann die Gefahr, | |
| dass jede einzelne Warnung untergehen könnte – und dass die lange Liste von | |
| Inhaltswarnungen einem Beipackzettel gleichen würde. Und der Psychologe | |
| Thomas Weber erklärte [2][der taz im Interview], der Begriff Triggerwarnung | |
| selbst könne bei Betroffenen Ängste auslösen, und dass Außenstehende die | |
| Triggerpunkte der anderen definierten, sei übergriffig und anmaßend. Er | |
| plädiert für eine etwas nüchterner formulierte „Inhaltsangabe“. | |
| Fair enough, das ist nachvollziehbar, da geh ich mit. Brauchen tun wir sie | |
| dennoch, in irgendeiner Form. Triggerwarnungen sind für mich vergleichbar | |
| mit Hinweisen auf Lebensmitteln für Allergiker:innen. Wer selbst nicht | |
| allergisch ist, hält solche Kennzeichnungen vielleicht für überflüssig. | |
| Aber Betroffenen können sie das Leben retten. Fehlt eine Inhaltswarnung bei | |
| einem Film oder Social Media Post, endet dies zwar in den allermeisten | |
| Fällen nicht direkt tödlich. Aber beispielsweise können von Gewalt | |
| traumatisierte Betroffene einen Nervenzusammenbruch erleiden oder in einen | |
| Schockzustand geraten, wenn sie ohne Vorwarnung mit der gleichen Art von | |
| Gewalt konfrontiert werden, die sie selbst erlitten haben. | |
| Streaminganbieter sollten der Idee des von Kruse befürchteten | |
| Beipackzettels also ruhig nachgehen und schön präzise alle sensiblen | |
| Inhalte auflisten. So wissen Traumatisierte, was sie erwartet. Sie können | |
| noch mal innehalten, in sich hineinhorchen, auf ihr Bauchgefühl hören, sich | |
| fragen, will ich mich dem aussetzen? Und je länger die Liste, desto mehr | |
| Betroffene werden angesprochen: Denn nicht nur Gewalt, sondern auch | |
| Alkoholmissbrauch, Spielsucht oder Depression können bei Leuten, die | |
| ebendiese Situationen erlebt haben, etwas auslösen. | |
| ## Wirklich unangenehm wird's im Kino | |
| Bei manchen Streaming-Anbietern steht so eine Inhaltsangabe wie von Weber | |
| vorgeschlagen nur neben der Storybeschreibung. Eine andere Alternative zum | |
| offensiven Einblenden wäre ein Triggerwarnungs-Button, den Betroffene | |
| anklicken könnten. So würden Leute wie mein Freund auch nicht mehr | |
| „gespoilert“. Ich halte diese weniger sichtbaren Varianten allerdings für | |
| keine guten Lösungen. Erstens vergessen auch mal Traumatisierte, dass sie | |
| etwas Schlimmes erlebt haben. Zweitens entwickeln wir als Gesellschaft nur | |
| dann eine Sensibilität gegenüber traumatisierten Menschen, wenn wir im | |
| Alltag damit konfrontiert werden. | |
| Streaming zu Hause ist dabei noch das kleinere Übel. Wirklich unangenehm | |
| kann es für Betroffene in öffentlichen Räumen werden, zum Beispiel im Kino. | |
| Denn da kann eine traumatisierte Person nicht schnell einfach wegschalten. | |
| Freund:innen und Familie können da eine Stütze sein und den Betroffenen | |
| aus ihrem Umfeld Bescheid sagen, wenn sie etwa einen Film gesehen haben, in | |
| dem etwas gezeigt wird, das Betroffene retraumatisieren könnte. Es ist | |
| nicht immer einfach, in der Freizeit auch noch die Sensibilitätsfühler | |
| gespitzt zu halten. Aber das bisschen Stress ist nicht vergleichbar mit | |
| dem, was Betroffene täglich an Triggern durchleben müssen. | |
| 4 May 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://uebermedien.de/55482/warnhinweis-wenn-immer-mehr-gewarnt-wird-verte… | |
| [2] /Psychologe-ueber-Triggerwarnungen/!5907830 | |
| ## AUTOREN | |
| Shoko Bethke | |
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