# taz.de -- Osteuropa-Workshop und Bergkarabach: Vergessener Konflikt im Südka… | |
> Seit Herbst 2023 steht Bergkarabach wieder unter der Kontrolle | |
> Aserbaidschans. Rund 120.000 Armenier:innen sind geflohen. Droht ein | |
> neuer Krieg? | |
## Kein Zuhause | |
Ich wurde 1994 geboren, zwei Monate nach dem Waffenstillstand, der den | |
ersten armenisch-aserbaidschanischen Krieg beendete. Das Gebäude in | |
Stepanakert, der Hauptstadt von Bergkarabach (Armenisch: Arzach), in dem | |
ich aufgewachsen bin, war allen als „Haus der Opfer“ bekannt, weil in allen | |
Wohnungen Familien gefallener Soldaten lebten. Wir waren die einzige | |
Familie in diesem Gebäude, in der es einen Vater gab. Vier Jahre später | |
starb mein Vater jedoch an Krebs. Mit sechs Jahren wusste ich bereits sehr | |
gut, was die Worte Tod, Witwe, arm und Waise bedeuten. | |
Ich war mir sicher, dass im 21. Jahrhundert Kriege der Vergangenheit | |
angehören würden und dass unser Gebäude einen anderen Namen tragen würde. | |
Ganze Familien würden dann in komfortablen Häusern leben, ohne dass es | |
ihnen an Nahrung oder Kleidung mangelt. Wer wusste schon, dass noch viele | |
Kriege auf mich warteten und ich es schaffen musste, nicht verrückt zu | |
werden und zu überleben. | |
2020 startete Aserbaidschan einen groß angelegten Angriff auf Bergkarabach, | |
der 44 Tage dauerte. Der Angriff endete tödlich für die Familien von 5.000 | |
Soldaten, darunter auch unserer … Zuerst starb der Sohn meines Onkels und | |
am vorletzten Kriegstag mein Bruder. | |
Monate später begann die Blockade von Bergkarabach durch Aserbaidschan, die | |
neun Monate währte. Mangels Nahrungsmittel, Medikamenten und | |
Haushaltsgegenständen schwebte ein neuer Krieg über den Köpfen der | |
erschöpften Menschen. 2023 mussten 120.000 Armenier:innen ihre Heimat | |
verlassen, um ihr Leben zu retten. Viele von uns suchten Zuflucht in | |
Armenien. | |
[1][Bergkarabach steht nun vollständig unter aserbaidschanischer Kontrolle, | |
ohne armenische Bevölkerung. Die Bedrohung ist jedoch noch nicht vorbei]. | |
Armenien droht ein neuer Krieg. Die Türkei, die Aserbaidschan während des | |
Krieges unterstützt hatte, fordert gemeinsam mit Baku einen Landkorridor | |
durch Armenien. Damit würde eine südliche Region Armeniens abgetrennt. | |
[2][Das Regime des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew spricht von | |
der Hauptstadt Jerewan als aserbaidschanischem Territorium]. | |
Ich, meine Familie und Hunderttausende normale Menschen, wir wollen jetzt | |
nur noch verstehen, wo unser Zuhause ist – ein Zufluchtsort den niemand | |
jemals wieder angreifen kann. Tatevik Khachatryan, Jerewan | |
Mythos Wahl | |
Meine belarussische Kollegin und ich fahren mit dem Bus vom Berliner | |
Flughafen zum Hotel. Worüber können sich zwei Frauen aus Osteuropa heute | |
unterhalten, wenn sie sich zum ersten Mal treffen? Über Krieg – leider. | |
„Meine Freunde sind kürzlich aus Armenien zurückgekehrt. Sie sagen, dass es | |
dort keine ukrainischen Flaggen gebe. In Georgien seien sie überall zu | |
sehen. Steht ihr Armenier:innen auf der Seite Russlands“, fragt die | |
belarussische Dissidentin, die aus ihrem Land fliehen musste. | |
„Deine Freunde haben Recht. Denn in meinem Land sollte es nur eine Flagge | |
geben, die Flagge Armeniens“, antworte ich scharf. „Ich dachte nicht, dass | |
meine Frage dich beleidigen würde, ich wollte nur die Position Armeniens | |
verstehen“, sagt sie. | |
Mir, die ich schon seit 20 Jahren als Journalistin arbeitet, wurde diese | |
Frage noch nie so klar gestellt. Stattdessen fällt mir etwas anderes ein. | |
Wie steht die Welt zu Armenien – einem Land, das auf der Landkarte kaum | |
sichtbar ist? | |
Seit dem Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukraine werden diese Fragen | |
lauter. Jede/r wartet auf eine Position aus Armenien. Aus einem Land, | |
dessen einziger „strategischer Partner“ Russland ist. Insbesondere nach dem | |
letzten armenisch-aserbaidschanischen Krieg nahm dieser Diskurs auch in | |
Armenien an Fahrt auf. | |
Moskau, das sich im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um | |
Bergkarabach zum alleinigen Vermittler entwickelte – auch wegen der | |
inkompetenten Außenpolitik Armeniens –, wurde während des Krieges und der | |
ethnischen Säuberung von Armenier:innen aus Bergkarabach zu einem | |
passiven Beobachter. Heute versucht Armenien, seinen politischen Kurs zu | |
ändern. Die antirussische Haltung gefällt dem Westen. Europäische | |
Diplomaten sagen, dass sie vor den Toren Europas auf Armenien warteten. | |
Dabei hatte Europa, für das Aserbaidschan ein wichtiger Energielieferant | |
ist, während der neunmonatigen Blockade der armenischen Bevölkerung durch | |
Aserbaidschan nicht mal mit der Wimper gezuckt … | |
Ich weiß nicht, wohin Armenien geht. Mein Land ist wie ein Esel, vor dessen | |
Nase zwei Karotten hängen – Russland und die EU. Der Esel weiß nicht, | |
welche er fressen soll und verhungert. Der Unterschied jedoch ist: Diese | |
Wahl ist nur ein Mythos. Armeniens wahre Wahl lautet: Sein oder Nichtsein. | |
Sona Martirosyan, Jerewan | |
Auf ein Bier | |
In einer trendigen Craft-Beer-Bar in Tbilissi am Samstagabend einen freien | |
Platz zu finden, ist fast unmöglich. Doch wir haben es geschafft. Ich war | |
froh, dass ich meine Aufgabe als „local“ erfüllt und eine Kneipe gefunden | |
hatte, die ich mit meinen Bekannten besuchen konnte. Sie waren zu einer | |
Tagung angereist. | |
Wir waren zu sechst: drei Armenier:innen und drei | |
Aserbaidschaner:innen. Genau genommen waren wir sieben, wenn man die | |
15-jährige Lilith, die Tochter einer armenischen Kollegin, dazurechnet. Das | |
Mädchen war gezwungen, den „Erwachsenengesprächen“ zuzuhören. | |
Ich erinnere mich nicht mehr genau, worüber wir gesprochen haben. Über | |
ungarische Literatur. Über sowjetisches Kino. Und darüber, wie die | |
Rinderknochenbrühe namens „Hasch“ – ein Lieblingsgericht im Südkaukasus… | |
richtig zu verzehren sei. | |
Es schien, als ob alles normal und in Ordnung sei. So, als habe es nicht | |
den Oktober 2023 gegeben, wo einen Monat zuvor in Bergkarabach ein Krieg | |
ausgebrochen war, der den armenisch-aserbaidschanischen Konflikt und den | |
Hass erneut eskalieren ließ. Wir taten so, als ob wir keine Angst hätten, | |
als ob uns von all dem nicht übel werden würde … | |
„Sicherlich hat sich Lilith gestern gelangweilt?“, fragte ich am nächsten | |
Tag die Kollegin. „Das hat sie, aber sie war auch erstaunt, dass wir Spaß | |
hatten. Dass Armenier:innen und Aserbaidschaner:innen so locker | |
miteinander Bier trinken, plaudern und sich übereinander lustig machen | |
können. „Dann sind wir ja ein Vorbild für künftige Generationen.“ „Aha. | |
Einen Mythos über eine unversöhnliche Feindschaft für einen Teenager | |
entlarven.“ | |
Wir beide lächelten bitter und dachten über dasselbe nach. Darüber, dass | |
kein inter-ethnischer Konflikt in der Geschichte ewig gedauert hatte. | |
Deshalb gibt es eine schwache Hoffnung, dass, wenn Lilith in unserem Alter | |
ist, ihre Tochter sich nicht mehr darüber wundern wird, dass ihre Mutter | |
mit ihrer aserbaidschanischen Freundin über Filme und Maniküre plaudert … | |
In Zukunft wird das für ein Mädchen normal sein. Natürlich ist es für | |
Armenier:innen und Aserbaidschaner:innen (auch für mich) derzeit | |
schwer, das zu glauben. Aber, wie der dänische Physiker Niels Bohr | |
behauptete, als er ein Hufeisen über die Tür hängte: „Man sagt, das wirkt, | |
auch wenn man nicht daran glaubt.“ | |
Nika Musavi, Baku/Tblissi | |
26 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] /COP-29-in-Aserbaidschan/!5993526 | |
[2] /Praesidentschaftswahl-in-Aserbaidschan/!5987574 | |
## AUTOREN | |
Nika Musavi | |
Tatevik Khachatryan | |
Sona Martirosyan | |
## TAGS | |
Osteuropa – ein Gedankenaustausch | |
Schwerpunkt Bergkarabach | |
Armenien | |
Aserbaidschan | |
Schwerpunkt Bergkarabach | |
Schwerpunkt Bergkarabach | |
Armenien | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Aserbaidschanische Einflussnahme: Eine massive Kampagne | |
Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik wollte über das Kulturgut | |
von Bergkarabach öffentlich diskutieren. Eine Veranstaltung vor Ort wurde | |
abgesagt. | |
Aserbaidschans Präsident im Wahlkampf: Von einem Sieg zum nächsten | |
Der autoritäre Präsident Ilham Alijew steht als Sieger der | |
Präsidentschaftswahl kommende Woche bereits fest. Die Alibi-Gegenkandidaten | |
werben für ihn. | |
Aserbaidschanisch-armenische Beziehungen: Frieden in Sicht? | |
Armenien und Aserbaidschan wollen ihre Beziehungen normalisieren. Ziel ist | |
ein Abkommen. Auch ein Gefangenenaustausch gehört zur Vereinbarung. |