# taz.de -- Buch über die Kritische Theorie: Eine packende Geschichte | |
> Der Historiker Philipp Lenhard hat eine Geschichte über die Frankfurter | |
> Schule vorgelegt. Das Netzwerk prägte die Theoriegeschichte wie kein | |
> anderes. | |
Bild: Als Adorno die Polizei gerufen hatte: Institut für Sozialforschung in Fr… | |
Um das Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) kreisen manch allzu | |
bekannte Geschichten um die häufig immer gleichen Personen. Zumeist | |
wiederholen diese Erzählungen, die mit der Forschungseinrichtung an der | |
Frankfurter Senckenberganlage verbunden sind, die Namen weniger. Diese | |
überdecken dabei die Geschichte der Kontingenzen, Unwägbarkeiten und | |
Unwahrscheinlichkeiten des IfS. | |
Diese bekannten Versatzstücke, die sich besonders um die ehemaligen | |
Direktoren Max Horkheimer und Theodor W. Adorno drehen, unterbricht | |
[1][Philipp Lenhards] Auseinandersetzung mit der Historie des Hauses und | |
den Personen, die dessen Geschichte schrieben, in seinem monumentalen Buch | |
„Café Marx“. | |
Philipp Lenhard, Historiker an der University of California in Berkeley, | |
verfolgt von 1924 bis 1974 die Geschichte eines Ort- und Zeitgeschehens, | |
das größten Widerständen zum Trotz seinen Platz in der Ideengeschichte des | |
20. Jahrhunderts einnahm und dabei immer Produkt „lebendigen Austauschs und | |
Konflikts“ war. | |
Dabei verfolgt er vier Erzählstränge: erstens die Geschichte des Hauses | |
oder genauer der Häuser als Gebäude und Orte, zweitens das IfS als | |
Treffpunkt unterschiedlichster Beziehungsgeflechte, drittens den | |
Stellenwert in der Forschungslandschaft und die Geschichte einer „sich über | |
die Zeit seines Bestehens permanent verändernden Idee“, die mit den | |
Insignien Kritische Theorie, Frankfurter Schule, Grand Hotel Abgrund oder | |
Café Marx zu fassen versucht wird. | |
## Spione, Exil, Patriarchat | |
Es ist eine packende Geschichte, die Lenhard dabei erzählt, von kriegsmüden | |
Jugendlichen und heimlichen Verstrickungen mit der Komintern. Ebenso vom | |
versteckten Marxismus von ein paar Freunden, die ihr eigentliches Anliegen | |
einer Forschungseinrichtung, die nicht nur der Erforschung der Revolution, | |
sondern auch ihr selbst dienen sollte, hinter „äsopischer Sprache“ verdeckt | |
hielten, bis der Plan des IfS endlich eingefädelt und durchgesetzt sein | |
sollte. | |
Es geht um Hausdurchsuchungen, Spione, Exil, patriarchale Ordnung des IfS | |
und Mitarbeiterinnen, ausweglose Situationen und Verluste, | |
Schicksalsschläge und Neubeginne. | |
Lenhard beginnt seine Studie mit einer literarischen Szene, wie sie jedem | |
Kapitel vorangestellt wird: Im Herbst 1915, zeitgleich zu den ergebnislosen | |
und doch opferreichen Schlachten in La Bassée und Arras, herrscht in einer | |
neoklassizistischen Villa in der Frankfurter Zeppelinallee 77 Hektik. | |
Anders als im sonstigen Salonalltag des gutbürgerlichen Milieus wurden die | |
Räume umfunktioniert, statt dem Flügel stehen Feldbetten im Musikzimmer, | |
ein notdürftig eingerichtetes Lazarett. | |
Herman Weil, Familienoberhaupt und steiler sozialer Aufsteiger – vom | |
„einfachen Sohn eines Landjuden“ hin zum „weltweit bedeutendsten | |
Getreidehändler seiner Zeit“ –, hat den Sitz der Familie für | |
Kriegsverletzte geöffnet. [2][Inmitten all dieses Treibens steht der Sohn | |
Felix Weil], der, finanziell unterstützt vom Vater und getrieben von einem | |
unbändigen Willen, wenige Jahre später zusammen mit Freunden das IfS ins | |
Leben rufen wird. | |
## Der junge Felix Weil | |
Anstatt der Geschichte des reichen Mäzens und des wohlhabenden Erben, | |
welche häufig angeführt wird in der Geschichte des IfS, zeigt Lenhard die | |
Entwicklung des jugendlichen Felix Weil, der dem Krieg widerstrebend | |
gegenüberstand und der mit seinem Schulfreund Leo Löwenthal nach einem Sinn | |
in der Welt suchte. Wie dieser zum jungen Marxisten, der sich mit Genossen | |
der Sache der Revolution zum Ende des Ersten Weltkriegs immer weiter | |
annahm, und schließlich zu dem erwachsenen Organisator wurde, der mit | |
großem Geschick und viel Glück das IfS ermöglichen sollte. | |
Teil dieser Geschichte sind zahlreiche Namen, die untereinander auch | |
widersprüchliche Vorstellungen eines sozialwissenschaftlichen | |
Forschungsinstituts hatten, die Lenhard detailgetreu nachverfolgt. | |
Die unterschiedlichen Ideen eines Instituts formen zusammen 1923 den | |
Startschuss für den Bau und ab 1924 das erste Gebäude, das von außen wie | |
eine Festung (Siegfried Kracauer) wirkte. Herz dieses Gebäudes bildete das | |
Archiv und die Bibliothek, geführt unter der „Diktatur des Direktors“ | |
Grünberg. | |
Der Lektüre folgend zeichnet sich das Geschehen des ersten Gebäudes mit | |
einem Außenarchiv in Berlin ab, das von polizeilichen Hausdurchsuchungen | |
betroffen war, über die Räumung, die Verlagerung des IfS nach Genf und New | |
York in den Jahren des Exils und schließlich der Wiedereinrichtung nach dem | |
Zweiten Weltkrieg im noch heutigen Frankfurter Neubau. | |
## Eine Geschichte von Freundschaften | |
Wenn das Archiv und die Bibliothek das Herz des ersten Institutsgebäudes | |
waren, waren es die Mitarbeiterinnen, die dieses Herz zum Schlagen | |
brachten. Hier wird sowohl deutlich, wie weit das Umfeld des IfS schon in | |
den ersten Jahren reichte und wie divers die Mitarbeitenden aufgestellt | |
waren. | |
Auch wird die „patriarchal geführte Forschungsanstalt“ beleuchtet, in der | |
beispielsweise den kompetenten und ausgebildeten Mitarbeiterinnen des | |
Archivs und der Bibliothek unbedingt ein Mann als Leiter vorgesetzt werden | |
musste. | |
Lenhards Studie könnten in diesem Aspekt auch andere Geschichten | |
hinzugefügt werden, wie die der freundschaftlichen Zusammenarbeit zwischen | |
Gertrude Irsch, die maßgeblich die Unternehmungen im ersten Exil in Genf | |
betreute, und Max Horkheimer, wie sie in den Briefen zu finden ist. | |
Das IfS war immer auch, und das wird in „Café Marx“ sehr deutlich, eine | |
Geschichte von Freundschaften, die in der Zusammenarbeit das Verständnis | |
von der Welt und damit die Welt selbst ändern wollten. Über die 600 Seiten | |
lässt sich nachvollziehen, wie sich mit den Forschungslandschaften und | |
historischen Entwicklungen auch die Fragen des IfS veränderten. | |
## Scheitern der Emanzipation | |
War es zu Beginn das Ausbleiben der Revolution, wurde es zu Zeiten des | |
Exils die Frage des Rückfalls in die Barbarei und [3][nach dem Zweiten | |
Weltkrieg die Möglichkeit der Selbstverteidigung] des Individuums gegenüber | |
der verwalteten Welt. | |
Dabei zeichnete stets eine Negativität das IfS aus, die Lenhard „als | |
Reaktion auf das Scheitern der Emanzipation“ fasst; eine Negativität, die | |
stets begleitet war von der Hoffnung auf ein mögliches Anderes, wie | |
Horkheimer einst an Gertrude Irsch schrieb: „Die Menschen müssen das Gute | |
machen, das Schlechte kommt von selbst.“ | |
„Café Marx“ ist eine umfassende historische Studie, durchsetzt mit | |
literarischen Sequenzen, mit denen Lenhard ein Gefühl für die Zeit | |
evozieren kann und so wissenschaftliches und literarisches Schreiben | |
verbindet. Mit seiner Studie zeigt er, wie die Riesen, auf deren Schultern | |
die Mitarbeitenden des IfS heute sitzen, zu diesen Riesen wurden, wer sie | |
umgab, mit wem sie arbeiteten, harmonierten und stritten, und wer ihnen ihr | |
Denkmal erbaut hat. | |
So schafft Philipp Lenhard in „Café Marx“ den Spagat, eine Einführung für | |
Interessierte und eine Vertiefung für Sachverständige zu vereinen, und | |
dabei erfahrungsgesättigt literarisch wie wissenschaftlich die Zeitachse | |
von Kritischer Theorie bis zur Frankfurter Schule nachzuzeichnen. | |
2 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Marc Ortmann | |
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