# taz.de -- Jakarta versinkt im Meer: Eine Stadt geht unter | |
> In Indonesiens Hauptstadt versucht man mit Beton den steigenden | |
> Meeresspiegel zurückzuhalten – und beschleunigt damit den eigenen | |
> Untergang noch. | |
Bild: Da hilft keine Mauer: Jakarta wird überschwemmt | |
Wenn Miati Kaffee kocht, geschieht das unterhalb des Meeresspiegels. „Ein | |
Meter, vielleicht anderthalb: Die Küche liegt ja im Erdgeschoss“, sagt die | |
55-Jährige und lacht. Seit dem Bau der Mauer, die den Ozean zurückhalten | |
soll, quasi direkt vor ihrer Haustür, zerbricht sie sich darüber aber nicht | |
mehr den Kopf. Mit Süßwasser Kaffee unter dem salzigen Ozeanpegel zu | |
kochen, „für mich ist das Alltag“, sagt die Hausfrau. | |
Miati wohnt in Kampung Luar Batang, einem dicht gedrängten Stadtviertel der | |
indonesischen Hauptstadt Jakarta, das direkt am Meer liegt. Schmale | |
zweistöckige, manchmal dreistöckige, aber selten höhere Häuser säumen in | |
Luar Batang enge Gassen, durch die nur Motorräder, aber keine Autos passen. | |
Vom Ozean bis zu Miatis Hauswand sind es nur zwei Armlängen, aber zwischen | |
Wasser und Haus steht ja noch die drei Meter hohe, vielleicht 40 Zentimeter | |
breite Betonmauer, die dafür sorgt, dass Miati hier immer noch Kaffee | |
kochen kann. Seit mehr als 30 Jahren lebt sie nun schon hier, „das Meer ist | |
immer höher gestiegen, ohne die Mauer wäre Leben hier unmöglich“. | |
Wäre absehbar gewesen, dass sich Jakarta einmal zu einer der Megacitys | |
dieses Planeten entwickeln würde, hätte wohl niemand ausgerechnet diesen | |
Siedlungsplatz gewählt: Die Stadt liegt auf Schwemmland. Ein Dutzend Flüsse | |
münden in der Bucht von Jakarta im Meer, ihre Deltas schütteten | |
jahrtausendelang hier dieses Schwemmland auf. Als die holländischen | |
Kolonialherren Anfang des 17. Jahrhunderts einen Hafen brauchten, fiel ihre | |
Wahl auf den Fluss Ciliwung. Und weil Holländer Grachten lieben, legten sie | |
auch hier solche an, was zwar den Transport der Waren aus dem Landesinneren | |
erleichterte, aber das Schwemmland zerschnitt und zu seiner ersten | |
Destabilisierung führte: Seit dem Bau der Grachten verlandeten diese Kanäle | |
immer wieder, weil Sedimente nachflossen – und das Schwemmland so zu | |
rutschen begann. | |
Trotzdem folgten Handel, Ausbeutung, der Zuzug von Wohlstand suchenden | |
Menschen und im 20. Jahrhundert jene dynamische Entwicklung, die Jakarta | |
mit heute mehr als 10 Millionen Menschen – im Großraum leben 30 Millionen – | |
zum Mittelpunkt Indonesiens machten. Einem Mittelpunkt auf Abruf: | |
Einerseits sinkt Jakarta so stark wie keine andere Stadt der Welt. | |
Wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge gibt Jakartas Untergrund aktuell | |
[1][um durchschnittlich drei Zentimeter pro Jahr nach], 40 Prozent der | |
Stadt liegen bereits unter dem Ozeanpegel. An manchen Stellen im Norden der | |
Stadt sinkt der Boden sogar um 25 Zentimeter jedes Jahr ab. Andererseits | |
steigt der Meeresspiegel wegen der Klimaerhitzung unaufhaltbar weiter an. | |
„Wir mussten früher manchmal mit dem Boot zur Arbeit paddeln“, sagt Reno, | |
ein Nachbar von Miati. Der 56-Jährige ist Händler und sitzt mit ein paar | |
anderen Männern zum Plausch nach Feierabend vor dem Büro des | |
Ortsvorstehers. Reno ist in Luar Batang geboren. „Besonders gut lässt sich | |
die Entwicklung am Minarett nachvollziehen“, sagt er. Das Minarett der | |
Masjid Luar Batang – eine der ältesten Moscheen Jakartas aus dem 18. | |
Jahrhundert – ist wegen seines großen Gewichts sehr viel stärker in den | |
Boden eingedrungen als der Rest des Viertels; seine Grundfläche befindet | |
sich inzwischen unterhalb der Moschee. | |
Um ihr Stadtgebiet gegen den Ozean zu schützen, begann die Stadtverwaltung | |
in den 2000er Jahren mit dem Bau einer Betonmauer, die dann immer wieder | |
erhöht werden musste. „Bei uns war sie 2017 endlich fertig“, sagt der | |
Händler Reno und nennt das „einen Segen“. Gleichzeitig seien nämlich auch | |
die Gassen betoniert worden; der Sumpf, auf dem das Viertel steht, wurde | |
damit quasi begraben. Weil auch hier einer jener Kanäle verläuft, die einst | |
von den Holländern angelegt worden sind, musste die Mauer fast um ganz Luar | |
Batang gezogen werden. Gleich gegenüber des Kanals befinden sich die | |
einstigen Lagerhäuser der Niederländischen Ostindien-Kompanie, die heute | |
ein Schifffahrtsmuseum beherbergen. | |
Nicht jeder Stadtteil hatte so viel Glück wie der von Miati und Reno, für | |
manche kam der Bau der Mauer auch zu spät. An den Stadtteil Kampung Muara | |
Baru erinnern nur noch wenige Mauern der ehemaligen Moschee, die heute von | |
den Wellen der Javasee umspült werden. Auch ist der Mauerbau noch nicht | |
komplett. An manchen Stellen – etwa im Hafen – sorgen Sandsackbarrieren | |
dafür, den Ozean zurückzuhalten. Stellenweise mit nur mäßigem Erfolg, wie | |
das überspülte Betriebsgelände eines Fuhrunternehmens zeigt: Reifen, | |
Ersatzteile und Holzpaletten vergammeln hier im Salzwasser. | |
Freilich hat der Beton als Mauer und auf den Gassen nicht nur Vorteile. In | |
Jakarta fließen die Flüsse nicht ins Meer, wie das normale Flüsse tun. Hier | |
kommen sie drei, vier Meter unterhalb des Meeresspiegels an. Riesige | |
Schöpfwerke sorgen dafür, dass die Differenz überwunden wird. Nicht überall | |
gibt es aber solche Schöpfwerke, und wenn es in der tropischen Regenzeit | |
ordentlich gießt, erweist sich der Beton in Luar Batang als „Badewanne“. | |
Trotz der Betonmauer oder gerade wegen ihr gibt es hier regelmäßig | |
Überschwemmungen. | |
2022 waren „50 Prozent des Stadtgebiets überflutet, zwischen 25 Zentimetern | |
und vier Metern“, wie ein Sprecher der Katastrophenschutzbehörde damals | |
erklärte. Im Jahr zuvor stand das Wasser stellenweise zwei Meter hoch. 2020 | |
erlebte die Stadt den heftigsten Monsunregen seit der Wetteraufzeichnung | |
1866, was zur Katastrophe führte: 57 Menschen ertranken, 400.000 mussten | |
ihre Häuser verlassen. Da half auch die Mauer vor Miatis Haustür nicht | |
mehr. Reno sagt: „Ich halte mein Boot jedenfalls griffbereit“. | |
„Die Leute graben sich den Boden selbst unter den Füßen weg“, sagt Marc | |
Goichot, Wasserexperte bei der für Südostasien zuständigen Abteilung der | |
Umweltorganisation WWF. Jakarta sei nämlich viel schneller gewachsen, als | |
die dafür notwendige Infrastruktur das zulasse. „Zum Beispiel beim | |
Trinkwasser: Weil es davon zu wenig in guter Qualität gibt, werden in | |
großer Zahl illegal Brunnen gegraben“, so der Wasserexperte. Nur etwa die | |
Hälfte der Bewohner der Megastadt ist an die zentrale Wasserversorgung | |
angeschlossen – der Rest pumpt sich das Wasser selbst aus dem Boden. Auch | |
auf vielen Baustellen ist es üblich, den Untergrund illegal anzuzapfen. | |
„Wird aber Grundwasser in großem Maßstab entnommen, führt das automatisch | |
zu Hohlräumen im Untergrund“, sagt Goichot. Und im Schwemmland würden diese | |
Hohlräume durch nachströmende Sedimente gefüllt, was das ganze Bodensystem | |
in Bewegung versetze: „Dadurch ist vorprogrammiert, dass die Oberfläche | |
weiter absinkt“. | |
## Giant Sea Wall | |
Wie dramatisch es um die Zukunft Jakartas steht, hat [2][Indonesiens | |
scheidender Präsident Joko Widodo] – der überall nur Jokowi genannt wird – | |
2019 deutlich gemacht: Seine Regierung beschloss, Jakarta aufzugeben und | |
eine neue Hauptstadt auf Borneo zu bauen. „Wir haben viele Untersuchungen | |
studiert und in den vergangenen drei Jahren unsere Studien intensiviert“, | |
sagte Jokowi damals. „Demnach ist der ideale Ort für die neue Hauptstadt in | |
Ost-Kalimantan.“ Seit 2020 wird in jenem Teil Borneos, der zu Indonesien | |
gehört, am neuen Regierungssitz gebaut, in der Provinz Kalimantan. | |
Der Name der neuen Hauptstadt wird Nusantara lauten – was sich aus den | |
Wörtern nūsa, für Insel, und antara, für dazwischenliegend, herleitet und | |
die Region zwischen dem asiatischen Festland und Australien beschreibt: | |
Indonesien. Fotos zeigen Straßen, Regierungsbauten, Wohnviertel, die | |
bereits fertig gestellt sind. Im August dieses Jahres sollen die ersten | |
Ministerien umziehen. | |
„Das ist doch Quatsch“, sagt Reno in Kampung Luar Batang, „Jakarta wird | |
immer die Hauptstadt Indonesiens bleiben.“ Wirtschaftlich jedenfalls gibt | |
es keinen anderen Ballungsraum im Land der 17.000 Inseln, der auch nur | |
annähernd so prosperiert. „Statt Geld im Dschungel von Borneo zu versenken, | |
sollte die Regierung lieber vor Jakartas Küste ein Sperrwerk wie vor | |
Venedig errichten“, fordert er. | |
Tatsächlich gibt es solche Pläne. Einer davon ist der „Giant Sea Wall“, b… | |
dem ein gigantischer Damm im Meer errichtet werden soll. 32 Kilometer lang | |
soll der Deich werden, er würde die Bucht von Jakarta vom Meer abtrennen | |
und eine Lagune schaffen. Fertig gestellt werden könnte das von | |
niederländischen Experten entwickelte Projekt in den 2040er Jahren, die | |
Baukosten werden auf über 30 Milliarden Euro taxiert. Experten sehen | |
allerdings riesige Umweltprobleme durch den Deich: Befürchtet wird | |
beispielsweise, dass Kepulauan Seribu – eine Kette von 130 palmengesäumten | |
Inseln in der Bucht – durch veränderte Meeresströmungen weggespült werden | |
könnte. Das Archipel ist ein beliebter Rückzugsort für hauptstadtgestresste | |
Indonesier. | |
Auch die Schifffahrt, die Fischer und Muschelsammler sind gegen den | |
Giga-Damm, weil sie dadurch den Zugang zum offenen Meer und ihre Fanggründe | |
verlieren würden. Zudem bezweifeln viele Fachleute, dass Jakartas | |
Zukunftsproblem durch eine künstlich angelegte Lagune gelöst werden kann. | |
Denn natürlich würde auch der neue Wall nur auf jenem Untergrund errichtet, | |
der immer weiter absinkt. Sein Gewicht würde den Prozess sogar | |
beschleunigen. Und nach Prognosen des Weltklimarates IPCC wird der | |
Meeresspiegel allein in den nächsten 75 Jahren um bis zu 80 Zentimeter | |
ansteigen. | |
Zumal der Damm nicht alle Probleme lösen kann. Wärmere Luft kann mehr | |
Wasser speichern, weshalb die Regenfälle immer heftiger ausfallen, die | |
Überschwemmungen in Jakarta zunehmen. „Solche Fluten wie in den letzten | |
drei Jahren hatten wir hier früher nicht“, sagt Miati. Jedes Mal stand eine | |
stinkend braune Brühe in ihrer Küche, Plasteflaschen, alte Flip-Flops, | |
Styropor und anderer Unrat schwamm obenauf. Vom Klimawandel hat sie noch | |
nie etwas gehört, eine Bewegung wie Fridays for Future gibt es in Jakarta | |
nicht. Dafür sind die Probleme zu gegenwärtig: Statt eine Mauer um Luar | |
Batang zu bauen, versuchte die Stadtregierung 2016 das Viertel, wie viele | |
andere auch, einfach abzureißen. Nur dank einer Klage durch den | |
renommierten Anwalt Yusril Ihza Mahendra gelang es den Anwohnern, ihre | |
Häuser zu verteidigen. | |
Zwar sind erste Inseln als Teil des neuen Damms bereits aufgeschüttet, doch | |
das Projekt liegt derzeit auf Eis. Um die illegale Trinkwasserentnahme zu | |
verringern, haben die Provinz Jakarta und das Ministerium für öffentliche | |
Bauvorhaben Anfang 2022 begonnen, neue Trinkwasserquellen in Westjava zu | |
erschließen. Bis 2030 sollen alle Haushalte an das öffentliche | |
Versorgungssystem angeschlossen sein, so der ehrgeizige Plan. | |
Selbst wenn dies gelingt – stoppen wird auch das Jakartas Untergang nicht. | |
„Sinkende Deltas lassen sich nur stabilisieren, wenn die natürlichen | |
Transport- und Ablagerungsprozesse von jenen Sedimenten, die die | |
Deltalandschaft einst erst erschuf, wiederhergestellt werden“, sagt | |
Goichot, der WWF-Wasserexperte. Dafür wäre es notwendig, den Flüssen in der | |
Stadt wieder mehr Raum zu geben, Flächen zu entsiegeln, | |
Versickerungsmöglichkeiten zu schaffen. Vor allem notwendig wäre ein | |
Verständnis der Verantwortlichen für das „System Schwemmland“, sagt | |
Goichot, und ergänzt: „Dafür gibt es leider aber keine Anzeichen.“ | |
Früher ist ihr Mann zur See gefahren, erzählt Miati, da war sie mit den | |
Kindern oft wochenlang allein im Haus. „Heute arbeitet er zum Glück im | |
Hafen und kommt abends nach Hause.“ Dann trinken sie gemeinsam ihren | |
Kaffee, unterhalb des Meeresspiegels. Dabei hört Miati stets aufmerksam den | |
Wetterbericht im Radio, denn: „Wenn starker Regen angesagt wird, stellen | |
wir zur Sicherheit die kostbarsten Dinge schon mal ins Obergeschoss.“ | |
21 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://agupubs.onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1029/2022GL098477 | |
[2] /Indonesien-vor-der-Wahl/!5978775 | |
## AUTOREN | |
Nick Reimer | |
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