# taz.de -- Glückstadt im 17. Jahrhundert: Toleranz und Sklaverei | |
> In Glückstadt ist man stolz auf die Gründungsgeschichte als | |
> „Toleranzstadt“. Doch die Stadt war am Sklavenhandel beteiligt, zeigen | |
> neue Forschungen. | |
Bild: Freie Fahrt für Sklavenhändler: Im Glückstädter Rathaus (Mitte) wurde… | |
HAMBURG taz | In Glückstadt ist man stolz auf den Matjes, der viele | |
Tagestouristen an die Unterelbe lockt. Und auf die Geschichte als | |
„Toleranzstadt“: Die Erinnerung an die ersten Jahrzehnte nach der Gründung | |
1617 ist in der Kleinstadt geprägt vom visionären Projekt Christians IV. | |
Der dänische König herrschte damals auch über Schleswig und Holstein und | |
wollte mit der Stadt einen Gegenpol zum wachsenden Hamburg schaffen. Um | |
Menschen in die neue Stadt zu locken, bot er Religionsfreiheit: | |
Niederländischen Glaubensflüchtlingen gewährte er ebenso Privilegien wie | |
[1][Jüd*innen, die aus Spanien und Portugal vertrieben worden waren.] | |
Neue Forschungen in Kopenhagener Archiven, im Kreisarchiv Nordfriesland und | |
ihr Abgleich mit Glückstädter Quellen zeigen nun: Die damalige | |
Residenzstadt des dänischen Königs war nicht nur eine tolerante Stadt, | |
sondern auch eine Stadt, in der viele vom atlantischen Sklavenhandel | |
profitierten. 50 Jahre lang spielte sie eine bedeutende Rolle bei der | |
Versklavung von Menschen in Westafrika. Bedeutender jedenfalls, als weite | |
Teile der Forschung bisher angenommen haben. | |
In der Stadt, so heißt es bislang, seien zwar Schiffe der „Brandenburger | |
Afrika Kompanie“ ausgestattet worden, deren Verstrickung in den | |
Sklavenhandel bekannt ist. Die 1659 gegründete „Glückstädter Africanischen | |
Compagnie“ wiederum sei vor allem von bekannten Akteuren aus [2][Hamburg] | |
und den [3][Niederlanden] betrieben worden. Dieses Bild muss jedoch | |
korrigiert werden. Glückstädter Akteure waren früher, in größerem Umfang | |
und länger als bisher angenommen am Sklavenhandel beteiligt. | |
Einer der Protagonisten war Moses Henriques, einer der ersten Bürger der | |
neu gegründeten Stadt. Er steht bis heute für den Traum von der Toleranz | |
einer weltoffenen Stadt, in der Verfolgte Zuflucht finden. Als Reeder und | |
Investor war er aber auch an der frühen Kolonisierung Westafrikas und der | |
Sklaverei beteiligt. Er war Geschäftsführer der „Glückstädter Africanisch… | |
Compagnie“. Und er hielt selbst versklavte Menschen bei ihm in Glückstadt | |
gefangen. | |
Schon viele Jahre vor der Gründung der Glückstädter Companie gab es | |
Verstrickungen in den Sklavenhandel. 1646 segelte ein „Glückstadt“ | |
getauftes Schiff mit 347 versklavten Menschen von Gabun nach Barbados. In | |
den 1650er-Jahren übernahmen Glückstädter als „Zulieferer“ Fahrten vom | |
westafrikanischen Festland nach São Tomé vor Guinea, wo Portugiesen auf die | |
menschliche Fracht warteten. | |
Das Engagement der Glückstädter beschränkte sich dabei nicht auf die | |
Seefahrt. Viele Bürger investierten in die „Guinea-Fahrten“. „Ja, die | |
Guinea-Fahrt wird für die Erhaltung dieser guten Stadt für nöthig erachtet“ | |
– mit diesen Worten wandten sich 1689 Glückstädter Bürger an den Rat der | |
Stadt. Sie forderten freie Fahrt für Thomas Thorsen, der als Kapitän viele | |
Fahrten an die Westküste Afrikas unternahm, wo der Glückstädter am | |
Sklavenhandel beteiligt war. Viele in der Stadt scheinen davon profitiert | |
zu haben: Dem Brief lag eine Unterschriftenliste bei, in der sich die | |
Unterzeichner gegen das vorläufige Ende der Thorsen-Fahrten aussprachen. | |
Koloniale Verbindungen hatte die Stadt auch darüber hinaus: Siedereien etwa | |
verarbeiteten in Glückstadt Zucker aus brasilianischen Plantagen, ein | |
Glückstädter wurde 1681 Gouverneur der dänischen Kolonie St. Thomas. In der | |
Stadt selbst lebten mindestens fünf versklavte Menschen, von denen nur | |
einer namentlich bekannt ist: Emanuel. | |
An diese dunkle Geschichte erinnert in der einstigen „Toleranzstadt“ kaum | |
noch etwas. Doch ausgerechnet dort, wo Glückstadt heute wieder mit Ghana, | |
Guinea, Gabun, Sierra Leone, Nigeria und anderen Ländern der ehemaligen | |
„Gold- und Sklavenküste“ verbunden ist, hing bis 2004 noch ein Gemälde, d… | |
an die Rolle Glückstadts im Sklavenhandel erinnert. „Glückstadt 1682 – | |
Ausreise des ‚Chur Printz‘ und ‚Morian‘ nach West-Afrika“ heißt das … | |
das der Maler Hermann Wehrmann in den 1930er-Jahren für die ehemalige | |
Marinekaserne schuf, in der 2021 die [4][„Abschiebungshafteinrichtung | |
Glückstadt“] eröffnet wurde. | |
Hinter meterhohen Mauern werden dort Menschen inhaftiert, die meist nichts | |
verbrochen haben – aber [5][abgeschoben werden sollen], zum Beispiel nach | |
Westafrika. Auch die beiden Schiffe auf Wehrmanns Bild brachen 1682 nach | |
Afrika auf, es waren Reisen der „Brandenburger Afrika Kompanie“. | |
Als die neuen Forschungsergebnisse im März vorgestellt wurden, hörte auch | |
die lokale Initiative gegen das Abschiebegefängnis interessiert zu. Die | |
Besuchsgruppe für die Menschen in Abschiebehaft hatte den Vortrag | |
organisiert. Auch als Mobilisierung für eine große Demonstration vor dem | |
Gefängnis am 25. Mai. | |
Am Ende der Veranstaltung ging eine Unterschriftenliste herum, die sich im | |
Aufbau an jener der Glückstädter Bürger orientiert, die damals für ihre | |
Beteiligung am Sklavenhandel stritten. Das Abschiebegefängnis müsse | |
geschlossen werden, fordert sie, „was für die Erhaltung der Toleranz in | |
dieser guten Stadt für nöthig erachtet wird“. | |
10 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Victor Hübotter | |
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