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# taz.de -- Entführung von Kindern in Nigeria: Chibok als Brennglas
> Die Massenentführung von Chibok löste vor Jahren Entsetzen aus. Sie ist
> ein Beispiel dafür, was grundsätzlich in Nigeria schiefläuft.
Bild: Auch 10 Jahre nach der Entführung der Chibok-Mädchen hat sich die Situa…
Es waren schier unvorstellbare und nur bruchstückhafte Informationen, die
am Nachmittag des 15. April 2014 nach und nach in den Redaktionen
eintrudelten. Erst am Morgen zuvor waren auf dem Busbahnhof von Nyanya, der
an Nigerias Hauptstadt Abuja grenzt, zwei Bomben explodiert. Rund 90
Menschen starben, 200 wurden verletzt. Die Verantwortung für die Tat
übernahm die bekannteste Terrorgruppe des Landes, Boko Haram (Westliche
Bildung ist Sünde), die Mohammed Yusuf 2002 im Bundesstaat Borno im Norden
des Landes gegründet hatte.
An Anschläge, vor allem auf Busbahnhöfe und manchmal auch auf Schulen, war
man im Nordosten sowie zunehmend in der Nähe von Abuja spätestens seit 2013
gewöhnt. Dass es allerdings problemlos gelingen konnte, aus Schlafsälen der
weiterführenden Schule von Chibok in Borno 276 Mädchen zwischen 16 und 18
Jahren zu entführen, schien unwahrscheinlich. Genau das sorgte anfangs im
Süden des Riesenstaates für zahlreiche Verschwörungstheorien. Wochenlang
glaubten viele nicht, dass sich die Entführungen tatsächlich zugetragen
hatten.
Ohnehin ist das Land, in dem sich jeweils rund 50 Prozent der 230 Millionen
Einwohner:innen zum Islam beziehungsweise zum Christentum bekennen, und
in dem aufgrund europäischer Kolonialpolitik mehr als 250 ethnische Gruppen
zusammenleben, tief entlang religiöser und ethnischer Linien gespalten. Das
Misstrauen gegenüber den jeweils anderen sitzt tief. Damals trug auch die
Regierung von Goodluck Jonathan dazu bei. Wochenlang ignorierte sie den
Angriff auf die Schule und äußerte sich nicht.
Doch die erste Massenentführung aus einer nigerianischen Schule ist bis
heute Realität. Verschiedenen NGOs zufolge sind auch zehn Jahre später rund
90 Verschleppte nicht zu ihren Familien zurückgekehrt. Einige dürften
längst tot sein. Ihr Gefängnis lag und liegt schließlich im mehr als 500
Quadratkilometer großen Sambisa-Wald, in den sich Boko Haram zurückgezogen
hatte.
## Viele Eltern starrten mit leeren Augen in die Ferne
Ohne jegliche Infrastruktur können selbst leichte Erkrankungen tödlich
enden. Von den befreiten Frauen berichteten einige, dass sie dort mit
Boko-Haram-Kämpfern zwangsverheiratet wurden. Sie wurden vergewaltigt,
geschwängert und mussten zum Islam konvertieren. In Borno bekennt sich wie
überall im Norden die große Mehrheit zum Islam. Doch die überwiegende Zahl
der Entführten waren Christinnen.
Für die Angehörigen ist diese Vorstellung der blanke Horror. Schon zwei
Jahre nach der Entführung während des ersten Elterntreffens starrten viele
Mütter und Väter mit leeren Augen in den Sand oder in die Ferne und
wussten: Mit jedem Tag schwindet die Hoffnung auf eine Befreiung. Dennoch
ist es mehrfach zu Verhandlungen und Freilassungen gekommen. 2017 wurden
letztmals 82 Schülerinnen gegen fünf inhaftierte Boko-Haram-Mitglieder
ausgetauscht. Danach befreite das Militär nur noch zufällig ein paar
weitere Gefangene. Wenigen gelang die Flucht.
Das Schicksal der einstigen Schülerinnen allein ist schon tragisch genug.
Es ist aber nur ein Beispiel für einen maroden, perspektivlosen Staat.
Schon vor mehr als zehn Jahren gab es in Nigeria Tausende weitere Opfer,
die allerdings nicht bekannt und – aus Sicht der Täter – „wertvoll“ wa…
Aufgrund der Kampagne [1][#BringBackOurGirls] bekamen die Chibok-Mädchen in
kurzer Zeit weltweit Aufmerksamkeit bis ins Weiße Haus. Nigerias Regierung
wurde an ihrer Befreiung gemessen, was 2015 dem damaligen Präsidenten
Goodluck Jonathan wohl seine Wiederwahl kostete.
## Terrorgefahr bleibt real
[2][Massenentführungen gehen allerdings bis heute ungebremst weiter]. Unter
Jonathans Nachfolgern Muhammadu Buhari, der von 2015 bis 2023 im Amt war,
sowie dem aktuellen Präsidenten Bola Tinubu hat sich die Sicherheitslage in
Nigeria zwar verändert, aber nicht verbessert. Ab 2015 ist es den
Sicherheitskräften zwischenzeitlich gelungen, Boko Haram zurückzudrängen
und zu schwächen.
Kurzzeitig gab es außerdem Hoffnung, dass Kämpfe mit der Splittergruppe
Islamischer Staat in der Westafrikanischen Provinz – ISWAP hatte sich 2016
abgespalten – beide Bewegungen nachhaltig schwächen könnten. Doch die
Terrorgefahr bleibt real: Anfang März wurden aus Flüchtlingscamps in
Gamboru Ngala in der Nähe der Grenzen zu Tschad und Kamerun mindestens 200
Personen entführt. Die Tat wird Boko Haram zugeschrieben.
Einen Boom erlebt das Entführungsbusiness seit 2020. Nach Angaben der
Sicherheitsfirma Beacon Consulting mit Sitz in Abuja wurden allein im
vergangenen Jahr mehr als 4.000 Menschen entführt und knapp 10.000
ermordet. So wurden Anfang März im Bundesstaat Kaduna mehr als 280
Schüler:innen vom Hof der dortigen staatlichen Schule verschleppt.
Die Motivation dafür ist längst nicht mehr eine ideologische, sondern eine
wirtschaftliche. Der Naira ist abgestürzt, die Inflation liegt bei knapp 32
Prozent, und nach Angaben der Weltbank wird die Wirtschaft 2024 gerade
einmal um 3,4 Prozent wachsen. Die Bevölkerung nimmt hingegen jährlich um
rund fünf Millionen zu.
## Wer an der Staatsspitze steht, ist egal
Perspektiven werden keine geboten. Vergangenes Jahr strich die Regierung
die Benzinsubventionen ohne Kompensationen für die arme Bevölkerung. 104
Millionen Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze. Bei der Verteilung von
kostenlosen Lebensmitteln starben kürzlich mehrere Menschen bei einem
Gerangel. Auch das sorgt – wenn auch in sehr geringem Maße – dafür, dass
sich junge Menschen Terrorgruppen anschließend.
Ob ein Muslim aus dem Norden oder ein Christ aus dem Südosten an der
Staatsspitze steht, ist egal. [3][Keiner Regierung ist es gelungen,
Lebensbedingungen zu verbessern und dem Terrorismus langfristig den
Nährboden zu entziehen]. Der Fall von Chibok zeigt wie unter einem
Brennglas, was in Nigeria seit langer Zeit alles schiefläuft.
15 Apr 2024
## LINKS
[1] /Entfuehrung-von-Schuelerinnen-in-Nigeria/!5037104
[2] /Massengeiselnahme-in-Nigeria/!5994607
[3] /Verschleppte-Kinder-in-Nigeria/!5997125
## AUTOREN
Katrin Gänsler
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