# taz.de -- Entführung durch Islamisten 2014: Die Schattenmädchen von Nigeria | |
> Vor acht Jahren entführte Boko Haram 275 Schülerinnen. Bis heute bewegt | |
> deren Schicksal das Land – auch weil viele weiter verschwunden sind. | |
Bild: Zurück im Leben: eine der Entführten nach ihrer Befreiung im Jahr 2016 | |
MAIDUGURI taz | Als Mädchen entführt, als Frauen befreit: Das ist die | |
Lebensgeschichte jener Schülerinnen, die vor mehr als acht Jahren im | |
nigerianischen Dorf Chibok von der islamistischen Sekte Boko Haram entführt | |
wurden. Das Schicksal der sogenannten Chibok Girls bewegte die Welt und | |
lenkte erstmals internationale Aufmerksamkeit auf die Gräueltaten im | |
Nordosten Nigerias. | |
Es geschah in der Nacht zum 15. April 2014. 275 Schülerinnen bereiteten | |
sich in ihrem Internat, der Chibok Girls State Secondary School, auf ihre | |
Prüfungen vor, als Boko-Haram-Kämpfer auftauchten. Sie gaben sich als | |
Sicherheitspersonal aus, das für den Schutz der Mädchen sorgen solle. Die | |
Schülerinnen willigten ein, ihre Schlafsäle zu verlassen und die wartenden | |
Lastwagen zu besteigen. [1][Das Ziel der Männer war aber nicht die | |
Sicherheit der Mädchen, sondern der Sambisa-Wald an der Grenze zu Kamerun, | |
in dem Boko Haram seine Basen hatte.] | |
47 Mädchen konnten noch während der Entführung oder kurz danach fliehen; | |
andere kamen in Austauschaktionen frei. Die Massenentführung unterstrich | |
die Schwäche der nigerianischen Armee. Der Fall trug 2015 auch zur | |
Wahlniederlage von Expräsident Goodluck Jonathan gegen den bis heute | |
regierenden Muhammadu Buhari bei. | |
Über die Jahre hat Boko Haram immer wieder Mädchen im Austausch gegen | |
gefangene Kommandanten angeboten. Aber bis heute bleiben 96 Mädchen | |
verschwunden. Die christliche Organisation Open Doors fordert mehr | |
Anstrengung von Präsident Buhari, um auch die verbleibenden Geiseln aus der | |
Hand von Boko Haram zu befreien. | |
Elf Frauen – sie sind keine Mädchen mehr – kamen seit Juni dieses Jahres | |
frei. Alle sind jetzt Mütter; eine von ihnen hat vier Kinder. Sie alle | |
waren Opfer von sexualisierter Gewalt und Zwangsverheiratung an ihre | |
Geiselnehmer. Ihre Dorfgemeinschaften tun sich nun schwer damit, die von | |
den Freigelassenen mitgebrachten Kinder der Terroristen anzunehmen. | |
In einer Hilfseinrichtung in der Stadt Maiduguri werden einige dieser | |
Kinder und ihre Mütter versorgt. Rejoice Senki, eine der zuletzt befreiten | |
Geiseln, erzählt, wie sie in der Gewalt von Boko Haram mehrfach | |
vergewaltigt, dann zwangsverheiratet und zum Islam zwangskonvertiert wurde. | |
„Sie machen mit dir, was sie wollen, wenn du nicht machst, was sie sagen“, | |
erzählt die zweifache Mutter. | |
## Kampf um Akzeptanz zu Hause | |
[2][Die Freigelassenen finden ihre alte Heimat nicht so wieder, wie sie sie | |
kannten.] Manche mussten lernen, dass ihre Eltern nach Jahren der Trauer | |
und Depression mittlerweile tot sind. Die Aktivistengruppe „Bring Back Our | |
Girls“ berichtet von zahlreichen Todesfällen: „Man muss sich um die Eltern | |
kümmern“, sagt Allen Manasseh von der Gruppe, der zugleich Sprecher der | |
Chibok Development Association ist, die sich um die Entwicklung des Ortes | |
der Geiselnahme kümmert. | |
Über zwanzig Eltern seien bereits an Komplikationen im Zusammenhang mit | |
Bluthochdruck und Nierenversagen gestorben, sagt er, herbeigeführt durch | |
das angstvolle Warten auf ihre Töchter. Jahrelang wussten die Eltern nicht, | |
ob ihre Kinder überhaupt noch am Leben waren. Es gibt Berichte über mehrere | |
Todesfälle von Chibok-Mädchen in der Geiselhaft. Andere sollen von Boko | |
Haram als Selbstmordattentäterinnen in den Tod geschickt worden sein. | |
Chibok war kein Einzelfall. In Nigeria hat es seitdem weitere | |
Massenentführungen durch islamistische Gruppen gegeben. 2018 stürmte der | |
sogenannte Islamische Staat der Provinz Westafrika (ISWAP), der sich von | |
Boko Haram abgespalten hatte, eine Schule in Dapchi im Bundesstaat Yobe und | |
entführte 110 Schülerinnen. | |
Ein Mädchen starb, die anderen kamen innerhalb eines Monats wieder frei – | |
bis auf die damals 14-jährige Leah Sharibu, die sich angeblich weigerte, | |
zum Islam überzutreten. Während Sharibu zum Symbol des Widerstands gegen | |
die radikalen Islamisten wurde, erklärte ISWAP, man beabsichtige, sie als | |
„Sklavin auf Lebenszeit“ zu behalten. | |
Nigerias Regierung hat erklärt, sie werde „nicht nachlassen in unseren | |
Bemühungen, Leah Sharibu sicher nach Hause zu holen“. Präsident Buhari | |
hatte die Wahl 2015 mit dem Versprechen gewonnen, den islamistischen | |
Aufstand in Nordostnigeria zu beenden. 2019 wurde er wiedergewählt. Bereits | |
mehrfach hat er Boko Haram für besiegt erklärt und Angriffe der Gruppe | |
haben tatsächlich abgenommen. Das liegt allerdings auch an internen | |
Zerwürfnissen, was auch zum Selbstmord des Anführers Abu Mohammed Abubakar | |
al-Shekau führte. Er beging Suizid, als ISWAP versuchte, ihn festzunehmen. | |
Im Februar wird in Nigeria gewählt. Buhari tritt nach zwei Amtszeiten nicht | |
erneut an. Das Schicksal derjenigen, die sich noch immer in der Gewalt von | |
Boko Haram befinden, dürfte auch bei seinem Nachfolger ganz oben auf der | |
Agenda stehen. | |
19 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ahmed Obafemi | |
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