# taz.de -- Die Wahrheit: Bäume in aller Munde | |
> Nicht nur Marmor, Stein und Eisen werden falsch gebrochen, auch | |
> Sprachbilder erleiden metaphorisch Schiffbruch. Eine Sprachkritik. | |
Bild: Nigelnagelneuer KI-Chatbot mit angeheiterter Maulsperre | |
Wissenschaftler denken in Begriffen, andere Menschen in Bildern, und | |
Journalisten in schiefen. „Tiefgarage ist wieder aufgetaucht“, titeln die | |
Elmshorner Nachrichten, „Pfarrer rennt Einbrecher in Grund und Boden“, | |
jubelt die Fränkische Landeszeitung, und das Magazin Bank und Umwelt | |
konstatiert: „Besonders seit der Klimawandel spürbar wird, sind Bäume in | |
aller Munde.“ | |
Katachresen, wie diese sprachlichen Karambolagen in der Fachwelt heißen, | |
sind keineswegs schlecht. Dank ihnen gibt es in der ernsten Medienwelt | |
immer etwas zu beschmunzeln, wenn wieder jemand zu schnell gedacht, nein: | |
geschrieben hat, vom bildlichen Sinn abgekommen und im buchstäblichen | |
gelandet ist. Dann werden „ukrainische Familienmitglieder ein Jahrhundert | |
lang von Terror zerrissen“ und erleiden ein Martyrium, das weniger robuste | |
Menschen keine Sekunde überleben. Harmloser und richtig lustig geht es aber | |
in Deutschland zu: Dort „wackeln die ersten Trainer“ bereits kurz nach | |
Beginn der Fußballsaison. | |
Manches wirft allerdings Fragen auf, statt einfach lachen zu machen. „Neue | |
KI-Chatbots stellen herkömmliche Lehr- und Prüfungsmethoden auf den Kopf“? | |
Ein rätselhafter Vorgang, für den natürliche Intelligenz in der Tat nicht | |
ausreicht! Vorsicht ist also ratsam, zumal die Einführung dieser neuen | |
Methoden „natürlich ein harter Schnitt ist, den man nicht übers Knie | |
brechen sollte“ (alle Zitate: taz). | |
Auf Deutsch heißt eine Katachrese angeblich „Bildbruch“, obwohl niemand | |
weiß, was ein gebrochenes Bild sein soll. Gebrochene Knochen – die gibt es, | |
wenn auch nicht bei der Begrüßung von Joe Biden durch Saudi-Arabiens | |
Kronprinz Mohammed bin Salman: Zwar lautet der Fototext „Ein Faustschlag | |
von weltpolitischer Bedeutung“ (hier und fortan mit einer Ausnahme: taz), | |
doch tatsächlich sieht man bloß, dass beide „im Corona-Stil ihre Fäuste | |
aufeinanderstießen“, wie es später fast korrekt im Fließtext heißt. (Klei… | |
Hilfestellung: Sie stießen ihre Fäuste aneinander.) | |
Der Mensch hat Augen im Kopf, die alles sehen, indes auch ein Gehirn darin, | |
das vieles besser weiß. „Das Museo de Americo in Madrid: Nicht nur die | |
Sonne wirft darauf ein Schatten“, schreibt deshalb die Zeitung zu einem | |
Luftbild und verbreitet en passant neue Erkenntnisse über unser | |
Zentralgehirn, pardon, Zentralgestirn: Wahrscheinlich rührt auch die Nacht | |
von der Sonne her, indem sie einen Schatten auf die Erde wirft! | |
## Blaues Wunder Ulm | |
Keineswegs im Schatten befindet sich Ulm, diese laut taz „Stadt der | |
Superlative: höchster Kirchturm neben abgefahrenstem Denkmal vor blauestem | |
Himmel“ – dass es, ausweislich des Fotos, ein blassblauester und | |
bewölktester ist, wird eine optische Täuschung sein, und der Klumpen im | |
Kopf korrigiert sie zuverlässig. Man darf sich nicht vom äußeren Eindruck | |
beirren lassen! Das gilt auch für die laut Bildzeile „Wanderer mit | |
Windrädern“ – nur Leute, die am Schein haften, hätten dem Foto im Spiegel | |
die Unterschrift „Wanderer ohne Windräder“ gegeben. | |
Wurde dieses Bild auf einem Gipfel geschossen, so auf einem See jenes, auf | |
dem „der Saxophonist in Weiß, Beach-Cocktails und spiegelnde | |
Sonnenuntergangsstrahlen“ zu erblicken oder besser hinzuzudenken sind, denn | |
tatsächlich erblickt man zwei ältere Leute im Vordergrund, andere im | |
Hintergrund, außerdem Bierflaschen und -gläser auf einem Tisch und keine | |
Sonne. | |
Zwar kann es sein, dass im Druck nicht zu sehen ist, was im Original | |
vorhanden war, oder dass im hektischen Zeitungsalltag ein Foto ausgetauscht | |
und die fällige neue Beschriftung vergessen wird. Beides ist | |
ausgeschlossen, wenn es sich laut Bildunterschrift um ein „Wandbild an den | |
Hafenstraßen-Häusern“ in Hamburg handelt – doch wo sind die Häuser? Das | |
Foto zeigt ein einziges. | |
Wären es mehrere, müsste man sich wundern, dass ein Wandbild mehr als ein | |
Haus schmücken kann. Und sind es nicht eigentlich mehrere Bilder an der | |
Wand, sodass besser von Wandmalerei die Rede sein sollte? Anders gesagt: | |
Foto und Text lehren in vollendetem Zusammenspiel das genaue Hinsehen, | |
vulgo den kritischen Blick! Gut gemacht! | |
Hinschauen ist wichtig. Noch wichtiger ist hindenken und mehr sehen, als da | |
ist. Die Bildunterschrift „Muslime in der Shishan Moschee im jordanischen | |
Sweileh waschen vor dem Gebet ihre Füße“ ist deshalb richtig, auch wenn die | |
Muslime augenscheinlich ihre Hände waschen. Hände wie Füße sind Jacke wie | |
Hose, schon mal gehört? | |
Die empirische Wirklichkeit ist das eine, aber sie ist bloß der äußere | |
Schein. Die Presse aber erschafft eine eigene Welt, die die Wahrheit | |
dahinter aufdeckt. So zeigt ein Foto, auf dem Lenin mit dem rechten Arm | |
nach oben zu weisen scheint, in Wahrheit „Lenin, der, gottgleich, den | |
Finger reckt“. | |
## Sinnbildlicher Richtungsweiser | |
Gewiss, es ist nicht der Finger, und gereckt wird er auch nicht, sondern | |
der etwas mehr als halbhoch gestreckte Arm weist sinnbildlich in die | |
Richtung, wo der gute Mann die noch bessere Zukunft vermutet. Aber sonst | |
stimmt gottgleich alles, abgesehen davon, dass Gott in der christlichen | |
Ikonografie mit seinem Finger nach unten zu weisen pflegt, wo auf Erden die | |
Menschlein sind. | |
An Fehlern lernt man, was richtig wäre, und über diesen Umweg lehren Fotos | |
das Sehen, Denken und Schreiben. Und das richtige Fühlen! „In der Region um | |
Donezk ist das Leid unermesslich“ lautet die Unterschrift zu einem Foto, | |
das im Hintergrund eine verschneite Landschaft zeigt und im Vordergrund, | |
angeschnitten, also nicht ganz, ein Auto. Die Botschaft: Autofahren bei | |
Schneewetter ist unermesslich leidvoll! So lernen deutsche Automobilisten | |
Solidarität mit der Region Donezk, wenn die Straßen hierzulande verschneit | |
sind. Was will man mehr? | |
Aber mehr gibt es nicht. Denn Fotos beweisen nichts – außer, dass sie kein | |
Beweis sind. Oder nur einer im Zusammenspiel mit dem Wort. Das aber braucht | |
keine Bebilderung, es ist auch so anschaulich komisch. „Die Lahn ist noch | |
nicht in trockenen Tüchern“, meldet die Rhein-Zeitung, und nebenan geben | |
die Mittelrhein Nachrichten bekannt: „Der Umzug zu St. Martin findet in | |
diesem Jahr – anders als in all den letzten Jahren – am Montag, den 12. | |
November, statt. Das Pferd kann am 11. nicht.“ | |
2 Apr 2024 | |
## AUTOREN | |
Peter Köhler | |
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