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# taz.de -- Basketball in Sachsen: Die lange Bescheidenheit
> Die Chemnitz Niners haben gute Chancen, das Finale des Fiba Europe Cups
> zu erreichen. Mittlerweile kann der Club langfristig planen. Ein
> Ortsbesuch.
Bild: „Vielleicht sind wir zu schnell zu groß geworden“: Trainer Rodrigo P…
Rodrigo Pastore schaut grimmig drein. Dann fragt er den Journalisten der
Freie Presse, wie die Überschrift seines Artikels bezüglich des just
verlorenen Heimpiels gegen Alba Berlin laute. Thomas Reibetanz sagt: „Die
Niners verlieren auch das vierte Topspiel“. Im sehr spärlich besetzten Raum
der Pressekonferenz beginnt nun ein seltenes Schauspiel. Der Gästetrainer
ist noch nicht da, und so führt Pastore, der Trainer der Niners Chemnitz,
ein anklagendes Selbstgespräch. Oder ist es eine kritische Bilanz seiner
neun Jahre [1][Chemnitz]?
Der Sermon richtet sich halb an Reibetanz, halb an die ganze Welt. „Soso“,
sagt der Argentinier mit der Glatze, „wir haben also nur vier Topspiele
[2][in der Saison], und die anderen zählen anscheinend nicht?!“ Die
Botschaft wolle er bestimmt nicht vermitteln, entgegnet der Sportreporter.
„Ach, ich rede nur so für mich hin, ich gebe nur eine Pressekonferenz vor
der Pressekonferenz, und wer zuhören will, kann das tun, ansonsten spreche
ich nur zu mir.“ Der Trainer schaufelt seinen Frust in den Raum. Die
Abraumhalde wird größer und größer. Irgendwann sagt der 51-Jährige:
„Vielleicht sind wir zu schnell zu groß geworden, wir müssen bescheiden
bleiben.“ Humble. Das Wort fällt einige Male.
Pastore nimmt Niederlagen persönlich. Er will immer gewinnen, immer besser
werden. Das war schon als Spieler in Bonn oder Ragusa so. Jetzt treibt er
seine Profis, ja den gesamten Klub an. Vorm Spitzenspiel gegen die Berliner
standen die Sachsen auf Platz eins der Tabelle. Aktuell sind sie Zweiter.
So oder so, sie spielen um die Meisterschaft mit. Die Niners konkurrieren
nun mit Bayern München und [3][Alba Berlin], den deutschen
Basketballriesen. Geschlagen haben sie die härtesten Konkurrenten schon,
aber noch nicht in dieser Saison. Die Euroleague-Teams verfügen über einen
drei- bis viermal höheren Etat als die Niners Chemnitz, die international
im drittklassigen [4][Fiba Europe Cup] spielen.
Aber auch in diesem Wettbewerb sorgen die Niners für Aufsehen. Am Mittwoch
haben sie Bilbao im Halbfinale auswärts geschlagen. Das Spiel zeigte
sinnbildlich, was die Niners stark macht: Im ersten Viertel heillos hinten,
ziehen sie sich am eigenen Schopf aus dem Schlamassel. Sie rackern,
arbeiten, kämpfen – und der Beobachter staunt über dieses Comeback des
puren Wollens; Pastore findet endlich nach zig Versuchen die richtige
Formation, und ab da läuft es: 98:73 in fremder Halle. Der Finaleinzug am
kommenden Mittwoch (19 Uhr, Livestream im MDR) scheint jetzt nur noch
Formsache zu sein. Der Titel ist greifbar, offensichtlich leichter zu holen
als die Deutsche Meisterschaft.
## Basketball und das andere Chemnitz
Gegen Alba reicht es trotz eines Aufbäumens in den letzten drei Minuten
nicht mehr zum Sieg. Die 5.000 Zuschauer in der Messehalle Chemnitz stehen
trotzdem und applaudieren, so wie sie es fast das gesamte Spiel über getan
haben. Karli, das Maskottchen, plüschiges Zitat an die Zeit, als Chemnitz
noch Karl-Marx-Stadt hieß und die Nomenklatura einen „Nüschel“ des
Philosophen in der Innenstadt aufstellte, schlurft noch einmal übers
Parkett.
CDU-Ministerpräsident [5][Michael Kretschmer], den das Publikum gar nicht
unfreundlich willkommen hieß (wie früher übrigens auch Bundeskanzlerin
[6][Angela Merkel]), erhebt sich von seinem Platz hinter dem
Anschreibetisch. Ein paar Caipirinhas gehen an der „Cocktailbar“ für 8,50
Euro über den Tresen. Eine Familie isst Lángos, und spätestens jetzt weiß
man, woher der Frittendunst kam, der durch die gesamte Halle waberte und
sich mit dem Schweiß der Spieler mischte.
Basketball ist in Chemnitz zum Event geworden. Der Sport ist Stadtgespräch.
Er gibt Chemnitz ein gutes Gefühl. Und nicht zufällig trainieren die Niners
unter der Woche im Feelgood-Club. Die Stadt braucht dringend Hoffnung und
Zuversicht. Wer nie hier war und sich nur aus den Medien über die Stadt an
den Ausläufern des Erzgebirges informierte, der konnte den Eindruck
gewinnen, Chemnitz sei eine [7][Nazi-Hochburg], hier würden im
Wochenrhythmus Ausländer durch die Stadt gejagt – und in der Anhängerschaft
des Chemnitzer FC materialisiert sich all das zu einer unguten, braunen
Melange.
## Chemnitz schleppt Ballast herum
Keine Frage, Chemnitz schleppt Ballast mit sich herum: Braindrain, also
eine krasse Abwanderung von Talenten, hat die Stadt ausbluten lassen. Das
Stadtbild ist eine triste Tuschezeichnung. Verfallene, aufgelassene Gebäude
findet man an fast jeder Ecke, viele Viertel wirken merkwürdig unbelebt.
Der Charme der Stadt vermittelt sich nicht auf den ersten Blick, auch nicht
auf den zweiten. Die aber immer wieder aufploppende unvermittelte
Herzlichkeit und Offenheit der Chemnitzer machen dann doch neugierig, wie
es sich in dieser Stadt leben lässt, immerhin [8][Kulturhauptstadt] 2025.
Noch so ein Hoffnungsschimmer.
Während andere Städte im Osten, Görlitz oder Erfurt, wieder erstrahlen,
zumindest architektonisch, sieht man Chemnitz einen Rückstand von zehn oder
fünfzehn Jahren an. Steffen Herhold, Geschäftsführer der Niners, nimmt
gerne an, was man so über Chemnitz denkt. Er will wissen, wie man die Stadt
von außen sieht, um daraus zu lernen. Die Niners sind für Herhold, der in
Chemnitz geboren und dann in den Westen gegangen ist, um wie so viele aus
seiner Generation Chancen zu suchen, ein Projekt, „ein Start-up“. 2015 hat
ihn ein Anruf aus der Heimat erreicht. Er würde hier gebraucht. Man hätte
Großes mit den Niners vor. Steffen Herhold sagte zu. Im Westen war Herhold
ersetzbar, einer von vielen. In Chemnitz nicht.
Gegen die Kennzeichnung „Lokalpatriot mit Visionen“ hat er nichts, im
Gegenteil, sie gefällt ihm. Mangementposten mit strategischer Ausrichtung,
die Herhold interessiert hätten, gab es damals nicht viele in Chemnitz, und
so hat sich der nun 46-Jährige einen Job geschaffen, der ihn angemessen
herausfordert. Er betont das Potenzial dieser Stadt, „die einmal für eine
halbe Million Menschen angelegt wurde, mit Infrastruktur, mit allem. Es ist
eigentlich alles da.“
Über 200 Sponsoren hat er überzeugt, den Niners Geld zu geben, mal 10.000
Euro, mal 20.000. Mit strahlenden Augen kann er das Geschäftsmodell von
Staffbase, dem Trikotsponsor, erklären und wie er eine ganze Stadt, nun ja,
ninerisiert hat. Die Niners versprechen Wachstum. Schritt für Schritt geht
es voran, und wenn man die Verantwortlichen im Verein, allen voran Steffen
Herhold so hört, dann sind die Basketballer noch längst nicht am Ende ihres
Wegs.
## Sponsor, Halle, ökonomische Unabhängigkeit
Eine richtig gute Halle hätten sie gern. Die Planungen dafür sind seit
einem Jahr angelaufen. Mit dem Land Sachsen und der Stadt Chemnitz ist man
auf der Suche nach einem geeigneten Standort. Ein Großsponsor wäre auch
nicht schlecht, aber da hat Steffen Herhold seine Vorbehalte. Die
Abhängigkeit sei dann wohl zu groß, findet er. Am Beispiel der
Basketballstandorte Bonn und Gotha habe man gesehen, wohin das führen
könne. „Best of the Rest“ möchten die Niners Chemnitz mittelfristig werde…
also das beste Team hinter den Bayern und Alba. Ein Platz in der Euroleague
sei freilich unrealistisch, weil die Region dann doch zu strukturschwach
ist.
Es ist bestimmt besser, dass Rodrigo Pastore diesen Satz von Steffen
Herhold, gefallen in der Geschäftsstelle an der Annaberger Straße, nicht
hört, denn 15 Fahrradminuten entfernt, recht hübsch gelegen am Grüngürtel
des Flüsschens Chemnitz, wirbelt er gerade wieder im Feelgood-Club, treibt
seine Spieler an. Den Fremdling in der Halle erspäht er natürlich sofort,
checkt ab, was Sache ist. Nach dem eigentlichen Training werfen seine Jungs
einfach weiter.
Es ist ausgemachte Sache: Wer mehr will, muss mehr machen. Auch DeAndre
Landsdowne schuftet noch ein bisschen. Der US-Amerikaner wirft Dreier. Acht
von zehn Fernwürfen gehen rein in die Reuse. Der 34-Jährige wirft den Ball
im hohen Bogen auf den Korb. Das sieht nicht nur schön aus, sondern erhöht
auch die Trefferwahrscheinlichkeit.
DeAndre Landsdowne ist der Leader im Team, und neben Pastore der einzige,
der noch einen Vertrag über die Saison hinaus besitzt. Im Basketball ist es
üblich, Ein- oder Zweijahresverträge zu unterschreiben, was zu einer
starken Fluktuation führt. Im Sommer wird es wieder viele Wechsel und neue
Gesichter in Chemnitz geben.
Landsdowne, dessen Karriere nicht immer geradlinig verlief, sieht darin das
Positive: „Ich freue mich, neue Typen kennenzulernen, das wird bestimmt
spaßig.“ Auch Rodrigo Pastore geht mit den jährlichen Brüchen pragmatisch
um. So sei das Geschäft nun einmal: Der eine geht, der andere kommt.
Landsdowne ist mindestens noch ein Jahr in Sachsen, seine Frau auch. Sie
findet es manchmal schwierig, hier zu leben, vor allem die Wintermonate
ziehen sie, die so gern im heimischen San Diego wäre, doch ziemlich
herunter.
DeAndre Landsdowne selbst kann das Umfeld gut ausblenden. „Ich habe meine
Routinen, und die ziehe ich tagtäglich, egal, wo ich bin, gnadenlos durch.“
Ein Profi mit Plänen. „Ich bin hier noch nicht fertig“, sagt er. Das ist
offensichtlich niemand bei den Niners Chemnitz.
31 Mar 2024
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## AUTOREN
Markus Völker
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