# taz.de -- Prekäre Verhältnisse in der Wissenschaft: Warten auf die Entfrist… | |
> Wie lassen sich die prekären Arbeitsbedingungen an Hochschulen | |
> verbessern? Manche kehren der Wissenschaft entnervt den Rücken, oder | |
> gehen ins Ausland. | |
Bild: Unter dem Hashtag #IchBinHanna berichten Betroffene von prekären Arbeits… | |
Christine Roth hat allen Grund zu feiern. Die 32-^Jährige hat soeben ihre | |
Promotion abgeschlossen. Doch zum Feiern ist der Literaturwissenschaftlerin | |
nur bedingt zumute. Denn Roth steht vor einer schweren Entscheidung: Bleibt | |
sie in dem Beruf, den sie liebt, stehen ihr aufwühlende Jahre bevor. Der | |
Statistik nach wären es in etwa zehn. Dann nämlich hätte Roth das Alter | |
erreicht, in dem Forscher:innen in Deutschland im Schnitt auf ihre erste | |
Professur kommen: mit Anfang 40. Ein Wagnis, findet Roth. [1][Denn eine | |
Professur zu erhalten, kommt in Deutschland einem Lotteriespiel gleich.] | |
Und andere Dauerstellen gibt es kaum. | |
Mehr als 80 Prozent der Wissenschaftlichen Mitarbeitenden haben befristete | |
Verträge, bei den „Nachwuchsforscher:innen“ unter 45 sind es sogar 92 | |
Prozent. Sie alle nehmen auf dem Weg zur Professur über viele Jahre prekäre | |
Arbeitsbedingungen in Kauf: Kettenverträge, psychischer Druck und | |
Abhängigkeit von den Professor:innen. | |
„Wer in der Wissenschaft bleibt, setzt sich einer totalen Unsicherheit | |
aus“, beobachtet auch Roth, die in diesem Text anders heißen möchte. Sie | |
erwägt, deshalb ihre Karriere aufzugeben. „Ich finde mein Fach großartig, | |
ich mache auch sehr gern Lehre. Aber ehrlich gesagt, will ich mir diese | |
Unsicherheit nicht noch weitere zehn Jahre antun.“ | |
In ihrem Koalitionsvertrag hat die Ampel versprochen, die | |
Arbeitsbedingungen an Hochschulen zu verbessern. Die Eckpunkte der Reform | |
legte Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) bereits vor | |
einem Jahr vor. Nach langem Ringen haben SPD, Grüne und FDP nun eine | |
Einigung erzielt. Den gemeinsamen Entwurf könnte das Bundeskabinett noch im | |
März beschließen. | |
Kommt er so durchs Parlament, werden erstmals Mindestvertragslaufzeiten für | |
Promovierende (zwei Jahre) und sogenannte Postdocs (drei Jahre) eingeführt, | |
auch wenn diese juristisch nicht bindend wären. Kernpunkt der Reform aber | |
ist, dass die Hochschulen ihren Forschenden früher als bisher mitteilen | |
müssen, ob sie in der Wissenschaft bleiben dürfen oder nicht. | |
## Entwurf der Ampel geht nicht weit genug | |
Aktuell können die Unis den wissenschaftlichen Nachwuchs zwölf Jahre | |
hinhalten. So lange erlaubt das Wissenschaftszeitvertragsgesetz | |
(WissZeitVG) befristete Verträge – sechs Jahre vor und sechs Jahre nach der | |
Promotion. Damit soll garantiert werden, dass sich auch die jeweils | |
nachkommende Generation wissenschaftlich „qualifizieren“ kann. Umstritten | |
ist aber, ob diese Phase nicht schon mit der Promotion enden sollte, wie es | |
Gewerkschaften seit Jahren fordern. | |
Doch so weit geht der Ampel-Entwurf nicht. Künftig liegt die | |
Befristungshöchstdauer immer noch bei zehn Jahren, eine Verlängerung um | |
weitere zwei Jahre wird aber nur mit einer Anschlusszusage möglich sein. | |
Dieses Modell ist die favorisierte Lösung der Hochschulen. [2][Bei den | |
Betroffenen hingegen löst es Kopfschütteln aus.] | |
„Aus meiner Sicht ist das keine Reform, sondern eine Verschärfung“, sagt | |
Philipp Krämer, der seit zwei Jahren in Belgien forscht. Die | |
Arbeitsbedingungen an deutschen Unis kennt der Romanist aber nur zu gut. In | |
Berlin, Potsdam und Frankfurt (Oder) hatte er über zwölf Jahre befristete | |
Verträge, die kürzesten gingen nur ein oder zwei Monate. „Es kostet viel | |
Energie und Nerven, sich andauernd um die nächste Stelle zu kümmern“, | |
erzählt Krämer am Telefon. Dieser Druck werde aus seiner Sicht mit der | |
geplanten Reform noch zunehmen. | |
Bisher nämlich haben die Postdocs sechs Jahre Zeit, sich einen Namen auf | |
ihrem jeweiligen Fachgebiet zu machen und all die anderen Anforderungen zu | |
erfüllen, die sie bei einer Bewerbung um eine Professur vorweisen müssen: | |
internationale Projekte, eine lange Publikationsliste und möglichst viele | |
Drittmittel, je nach Fach auch eine Habilitation. „Das alles in vier Jahren | |
zu schaffen, ist utopisch“, so Krämer. Was er in der aktuellen Debatte | |
vermisst, ist die breite Solidarität aus den Unis heraus: „Es herrscht | |
teils noch der Geist, entfristeten Mitarbeitenden pauschal Faulheit zu | |
unterstellen.“ | |
## Keine Veränderung ohne Druck | |
Wie es anders geht, erlebt der 40-Jährige jeden Tag an der Freien | |
Universität Brüssel. Dort erhielt Krämer sofort eine Stelle über fünf Jahre | |
– mit Aussicht auf Entfristung. „Seither schlafe ich wieder gut.“ Vor all… | |
aber fühle er sich viel freier in seiner Arbeit. In Deutschland hätte er | |
aus strategischen Gründen mehr zu französischer oder spanischer Grammatik | |
forschen müssen, um sich alles offen zu halten. Sein eigentliches | |
Interesse, Kreolsprachen in postkolonialen Zusammenhängen, hätte er dafür | |
hintan stellen müssen. Jetzt kann er sich dem endlich voll und ganz widmen. | |
Dazu kommen nette Annehmlichkeiten: So zahlt ihm die belgische Uni ein | |
ÖPNV-Ticket, die Krankenversicherung und eine Homeoffice-Zulage. „Das ist | |
eine ganz andere Kultur. Hier will die Uni ein guter Arbeitgeber sein.“ | |
In Deutschland gibt es zwar auch vergleichbar attraktive Stellen für | |
Nachwuchsforscher:innen, allen voran die sogenannten Juniorprofessuren | |
mit Tenure-Track. Deren Zahl ist aber verschwindend klein. 2022 gab es | |
davon laut Statistischem Bundesamt gerade mal 795, bei rund 50.000 | |
Professor:innen und [3][mehr als 200.000 weiteren hauptberuflichen | |
Wissenschaftler:innen]. | |
Ohne Druck von der Politik wird sich daran auch nichts ändern, sagt Mathias | |
Kuhnt vom Netzwerk Gute Arbeit für die Wissenschaft (NGAWiss). Dass die | |
Ampel die Hochschulen jetzt nicht zu mehr Dauerstellen verpflichtet, | |
bezeichnet er als „verpasste Chance“. Man müsse davon ausgehen, dass die | |
Hochschulen die Leute künftig „einfach nach zehn Jahren rausschmeißen“ | |
statt nach zwölf. | |
Die Hochschulrektorenkonferenz jedenfalls hat schon vor überzogenen | |
Erwartungen gewarnt. Die von der Ampel beschlossene Anschlusszusage werde | |
nicht zu mehr Stellen führen. Denn: „Mehr unbefristete Stellen für | |
Wissenschaftler:innen erfordern mehr dauerhafte Mittel für die | |
Grundfinanzierung der Hochschulen.“ Ein Argument, das Kuhnt so nicht gelten | |
lässt. | |
Zusammen mit Kollegen hat der Soziologe kürzlich alternative | |
Personalmodelle durchgerechnet. Das Ergebnis: Mit derselben finanziellen | |
Ausstattung, die einem durchschnittlichen Institut zur Verfügung steht, | |
könnten entweder sämtliche Postdoc-Stellen entfristet oder mit einer | |
Anschlusszusage bei Zielerreichung ausgestattet werden. In beiden Fällen | |
stiege die Wahrscheinlichkeit für promovierte Forscher:innen, auf einer | |
Dauerstelle zu landen. „Wir konnten nachweisen, dass die Behauptungen der | |
Unis, zu viele Dauerstellen seien finanziell nicht möglich und würden das | |
System ‚verstopfen‘, beide nicht stichhaltig sind.“ | |
## Manche geben auf und gehen | |
Eine politische Mehrheit für so eine grundlegende Reform ist derzeit aber | |
nicht in Sicht. Viele Wissenschaftler:innen hoffen deshalb jetzt auf | |
den Bundestag. Denn SPD und Grüne sind selbst nicht zufrieden mit der | |
Reform. Beide Parteien haben angekündigt, [4][den Entwurf im | |
parlamentarischen Verfahren nachverhandeln zu wollen], unter anderem bei | |
der Tarifsperre. Bislang dürfen Beschäftigte, die unter das WissZeitVG | |
fallen, nämlich keine besseren Arbeitsbedienungen per Tarifverhandlungen | |
erstreiten. | |
Dass die etwas verbessern können, zeigt sich gerade in Hessen. Dort haben | |
GEW und Verdi gerade eine bundesweit einzigartige Einigung mit dem dortigen | |
Wissenschaftsministerium erzielt. Bis 2030 muss die Zahl der Dauerstellen | |
an hessischen Hochschulen auf 1.850 steigen, das entspricht in etwa 40 | |
Prozent der Stellen, die über das Land finanziert werden. | |
Das sei angesichts der hohen Befristungsquoten noch immer zu wenig, sagt | |
Frauke Banse, die für die Gewerkschaft Verdi in der Tarifkommission saß. | |
„Aber insgesamt ist unser Verhandlungsergebnis ein großer Erfolg.“ Banse | |
hofft, dass auch andere Länder nachziehen und verbindliche Quoten | |
einführen. | |
Die Literaturwissenschaftlerin Christine Roth will darauf nicht warten. Sie | |
hat sich deshalb schweren Herzens dazu entschlossen, der Wissenschaft den | |
Rücken zu kehren. Im Juni tritt sie eine neue Stelle im Hochschulmanagement | |
an – dort werden qualifizierte Mitarbeiter:innen mit Handkuss | |
genommen. | |
24 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
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