Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Abtreibungsdebatte in Deutschland: Wenn Lebensschützer Leben gefä…
> Abtreibungsgegner bewerben ein Medikament, das Schwangerschaftsabbrüche
> rückgängig machen soll. Die Methode kommt aus den USA – und ist
> gefährlich.
Bild: Anti-Abtreibungs-Arzt Delgado präsentiert bei einer Veranstaltung Modell…
Berlin taz | Es ist Ende September 2023, als eine Gynäkologin an einem
Berliner Bahnhof zwei lose Blister mit Tabletten aus ihrer Tasche zieht und
sie zwei Frauen in die Hand gibt. Eine der beiden hat der Ärztin am Telefon
gesagt, sie sei schwanger und habe eine Pille genommen, um die
Schwangerschaft abzubrechen – obwohl sie das gar nicht wolle. Und die
Ärztin hat geantwortet, man könne versuchen, diese Abtreibung rückgängig zu
machen. Mit den Tabletten, die sie ihr nun aushändigt. Ohne ein Rezept,
ohne eine Untersuchung, ohne umfassende Aufklärung – ja sogar ohne
Überprüfung, ob die Person wirklich schwanger ist.
Die beiden Frauen sind Reporterinnen, die für das ZDF recherchiert haben,
wie weit Abtreibungsgegner gehen, um Abbrüche zu verhindern. Das erste Mal
können sie für Deutschland nun beweisen, dass sogenannte Lebensschützer
unter der Hand Medikamente herausgeben – angeblich, um damit Schwangeren,
die eine eingeleitete Abtreibung bereuen, zu helfen.
Aber was ist das für ein Medikament? Und hilft es wirklich?
Die Tabletten, die die Ärztin den beiden Reporterinnen aushändigt, sind ein
Progesteron-Präparat. Progesteron ist ein körpereigenes Hormon mit
schwangerschaftserhaltender Eigenschaft. In Tablettenform kann es
eingesetzt werden, um das Risiko von Fehlgeburten zu reduzieren. So weit,
so normal.
## Umstrittene „Umkehrtherapie“
Wofür es aber nicht zugelassen ist, ist als „Abortion Pill Reversal“, also
als Behandlung, die eine begonnene Abtreibung rückgängig machen soll. Genau
als das wird es jedoch von sogenannten Lebensschützern dargestellt, zum
Beispiel auf der Seite der „Aktion Lebensrecht für Alle“ (ALfA), einem
prominenten deutschen Verein aus dem Anti-Abtreibungs-Netzwerk. ALfA ist
auch Mitglied im Bundesverband Lebensrecht, einer deutschen
Dachorganisation für Abtreibungsgegner. Auf ihrer Webseite schreibt AlfA,
die Methode werde in den USA seit Längerem durchgeführt. Und: „Auch in
Deutschland besteht die Möglichkeit, eine solche Umkehrtherapie einer
medikamentösen Abtreibung zu versuchen.“
Bei einem medikamentösen Abbruch nimmt die Schwangere zwei Tabletten mit
einem Abstand von 48 Stunden. Die Lebensschützer behaupten nun, dass nach
der Einnahme der ersten Pille Progesteron in hoher Dosis gegeben werden
könne, um den Abbruch aufzuhalten. Erdacht wurde diese Methode von einem
Mann namens George Delgado – einem Anti-Abtreibungs-Arzt aus der
US-amerikanischen Lebensschutzbewegung.
Zwar ist die Gabe von Progesteron an sich nicht schädlich. Trotzdem kann
die von Lebensschützern beworbene Behandlung gefährlich werden, weil der
begonnene Abbruch nicht vollendet wird. Mitchell Creinin, Gynäkologe und
Professor an der University of California, hat 2019 die [1][einzige unter
wissenschaftlichen Kriterien angelegte Studie zu der Methode aufgesetzt].
Sie musste abgebrochen werden, weil die Probandinnen schwerwiegende
Blutungen erlitten. Eine von ihnen musste sogar eine Bluttransfusion
bekommen. „Ich mache seit dreißig Jahren medikamentöse
Schwangerschaftsabbrüche“, sagt Creinin. „Ich habe noch nie so starke
Blutungen gesehen.“ Es gebe „keine Studie, die die Wirksamkeit des
Medikaments beweist“.
## Mediziner lehnen die Methode ab
Zwar hat auch der „Pro-Life“-Arzt Delgado 2018 dazu publiziert, jedoch
[2][lediglich als „Fallstudie“], die den wissenschaftlichen Kriterien einer
repräsentativen Studie nicht gerecht wird. In internationalen medizinischen
Kreisen wird die von Lebensschützern beworbene Behandlung deutlich
kritisiert.
So nimmt beispielsweise das US-amerikanische College of Obstetricians and
Gynecologists Abstand davon [3][wegen „mangelnder wissenschaftlicher
Beweise“]. Und im Vereinigten Königreich hat das General Medical Council
2021 [4][wegen „unethischer und gefährlicher“ Methoden] gegen einen Arzt
ermittelt, der die Methode durchführt. Wegen mangelnder Beweise wurde das
Verfahren eingestellt, doch der Arzt hat zugegeben, dass zwei seiner
Patientinnen nach der Behandlung Bluttransfusionen gebraucht haben.
Trotzdem bewirbt er die umstrittene Methode weiter.
Die Bundesärztekammer bestätigt auf taz-Anfrage: „Progesteron ist in
Deutschland für die Indikation, einen eingeleiteten medikamentösen
Schwangerschaftsabbruch zu unterbrechen bzw. rückgängig zu machen, nicht
zugelassen.“ Die Gabe eines für die Behandlung nicht zugelassenen
Medikaments ist nicht per se strafbar, sondern als „Off-Label-Use“ durchaus
möglich. Aber nur, wenn die Ärztin selbst umfassend darüber aufklärt.
## Keine ausreichende Aufklärung
Das ist im oben beschriebenen Fall nicht geschehen. Die Reporterinnen
erhielten von der Ärztin lediglich einen Zettel, auf dem der Off-Label-Use
erklärt wird. „Eigentlich“ sei das Medikament „nicht dafür zugelassen,
einen begonnenen Schwangerschaftsabbruch rückgängig zu machen“, steht
darauf. Es könne aber zu diesem Zweck „durchaus eingesetzt werden“.
Die Ärztin verletzt damit die ärztliche Sorgfaltspflicht. Ein solches
Schreiben kann nicht als ausreichende Aufklärung gesehen werden. Die
behandelnden Ärzt*innen haften bei Off-Label-Use zudem für mögliche
Nebenwirkungen. Und: Nach Paragraf 3a Heilmittelwerbegesetz darf für
Off-Label nicht geworben werden.
Bereits 2021 hat die britische Recherche-Plattform [5][Open Democracy eine
umfassende europaweite Recherche dazu veröffentlicht], wie christliche
Rechte aus den USA die „Abortion Pill Reversal“ immer mehr auch in Europa
verbreiten. Damals verurteilten europäische und britische Parlamentarier
die Methoden als „komplett inakzeptabel“ und „schwer beunruhigend“. Für
Deutschland konnte Open Democracy zu diesem Zeitpunkt keine etablierte
Struktur nachzeichnen, die die Behandlung bewirbt.
## „Pro-Life“-Lobby agiert professionell
Das ist jetzt anders: Die Strukturen haben sich professionalisiert. Es gibt
eine 24-h-Hotline, die auf zahlreichen Webseiten der Lebensschutzbewegung
als Beratungshotline angeboten wird. Eine der ZDF-Reporterinnen hat dort
undercover angerufen und sich als Schwangere ausgegeben, die eine
medikamentöse Abtreibung angefangen habe, dies nun aber bereue. Binnen
weniger Stunden wurden sie und ihre Kollegin über ein anscheinend gut
funktionierendes Kontaktnetz an die Ärztin weitergeleitet, die ihnen noch
am selben Tag das Medikament aushändigte.
Die Professionalisierung geht einher mit einer zunehmenden Vernetzung und
Ausbreitung christlicher Rechter auch in Europa, die Expert*innen schon
länger Sorge bereitet. So zeigt die ZDF-Recherche auch auf, wie Allianzen
aus christlichen Fundamentalist*innen, rechten Politiker*innen und
einflussreichen Geldgeber*innen das Thema Abtreibung als Vehikel
nutzen, um ihre reaktionäre Ideologie politisch durchzusetzen.
In einigen Ländern gelingt das bereits: zum Beispiel in Polen, wo
christliche Rechte bereits an Gesetzgebungen beteiligt und sogar als
Richter im Obersten Gerichtshof vertreten waren. Neil Datta, Direktor des
European Parliamentary Forum for Sexual and Reproductive Rights (EPF) am
Europa-Parlament, warnt: „Die Akteure legten aktuell den Grundstein für
eine Infrastruktur, die Menschenrechte in einem umfassenden Bereich
angreift.“
## Es mangelt an Problembewusstein
Die zunehmend professionalisierte Verbreitung der „Abortion Pill
Reversal“-Methode ist nur ein Beispiel dafür. Eine Leitlinie oder ein
Gesetz, dass den Off-Label-Use im Kontext der von Lebensschützern
propagierten Methode reguliert, gibt es in Deutschland nicht. Und offenbar
auch kein politisches Problembewusstsein. Die sehr allgemeinen Antworten
auf eine taz-Anfrage bei den zuständigen Stellen zeigen: Weder dem
Bundesgesundheitsministerium (BMG), noch dem Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend (BMFSJ) scheint das Vorgehen der radikalen
Abtreibungsgegner überhaupt bekannt zu sein.
18 Mar 2024
## LINKS
[1] https://www.ansirh.org/sites/default/files/publications/files/so-called_med…
[2] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30831017/
[3] https://www.acog.org/advocacy/facts-are-important/medication-abortion-rever…
[4] https://archive.is/lN0at
[5] https://www.opendemocracy.net/en/5050/abortion-pill-reversal-spreading-in-e…
## AUTOREN
Sarah Ulrich
## TAGS
IG
Schwerpunkt Abtreibung
Recherche
Frauenrechte
Abtreibungsgegner
Mutterschaft
Paragraf 218
Schwerpunkt Frankreich
Doku
Schwerpunkt Abtreibung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Schwangerschaftsabbruch in den Medien: Gegen das Unverständnis
Im Zentrum der klugen Serie „Bauchgefühl“ steht eine Frau, die sich für
einen Schwangerschaftsabbruch entscheidet – trotz aller Widerstände.
Frauenärzt:innen streiten um Abtreibung: „Serienstraftäter“ wegen §218
Der Berufsverband der Frauenärzte hat sich gegen eine Legalisierung von
Abtreibungen ausgesprochen. 23 Bremer Ärzt:innen üben daran scharfe
Kritik.
Recht auf Abtreibung in Frankreich: Kein magisches Land
Es ist ein historischer Sieg: In Frankreich wurde das Recht auf Abtreibung
in der Verfassung verankert. Eine Einigung in einem gespaltenen Land.
ZDF-Doku „Die Spur“: Christliche Nächstenliebe? Von wegen
Die ZDF-Serie „Die Spur“ rekonstruiert das internationale Netzwerk von
Abtreibungsgegnern. Auch AfD-Politiker sind Teil der Gruppe.
Juristin über Abtreibungen: „Seismograf für Frauenrechte“
Die Legalisierung von Abtreibungen sei keine rein juristische Frage, sagt
Jura-Professorin Liane Wörner. Sie prüft, ob sich Abbrüche anders regeln
ließen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.