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# taz.de -- Als Satiriker in den 90ern: Anleitung zum Mord
> Im „Schelmenroman“ von Gerhard Henschel arbeitet der Held bei der
> „Titanic“. Auch die taz spielt darin eine entscheidende Rolle.
Bild: Schreibt sich zurück in die wilden 90er Jahre: Gerhard Henschel
Bloß keine falschen Albereien jetzt. Nicht witzig sein wollen und schon gar
nicht gescheitmeierisch über Satire daherreden! Sonst geht es diesem Text
so wie den Ergüssen der Kollegen in den 1990er Jahren, deren Rezensionen
nicht selten für allgemeine Belustigung in den Redaktionsräumen des
Satiremagazins Titanic gesorgt haben. Nun sind sie in Gerhard Henschels
„Schelmenroman“ verewigt worden, dem zehnten Band der Reihe über das Leben
des Martin Schlosser.
Schnell wird klar, dass der junge Mann bei aller bisweilen tölpeligen
Stolperei durch die Satirewelt ein ziemlich schlaues Kerlchen ist, einer,
der mal einen saublöden Text für die Titanic schreiben kann, der aber auch
für seine Klugheit geschätzt wird, mit der er in der Zeitschrift Merkur
europäisch zu denken weiß. Von so einem lässt man sich gerne in jene 90er
Jahre begleiten, in der [1][Rudolf Scharping], „der das geballte Charisma
einer Büroklammer besaß“, Vorsitzender der SPD war. Kanzler war Helmut
Kohl, bei dessen Anblick sich Schlosser immer wieder fragte, wie es dieser
Mann bloß schaffte, „sich allmorgendlich eine Krawatte umzuwürgen und prall
und drall vor die Kameras zu treten“.
Aber es ist Schlosser auch ernst. Schlecht werde es ihm jedes Mal, wenn ihm
irgendwo das Gesicht von [2][Manfred Kanther], diesem „gescheitelten
Widerling“, begegnet. Während in der Türkei kurdische Dörfer dem Erdboden
gleichgemacht werden, spricht sich der CDU-Innenminister gegen einen
Abschiedestopp für kurdische Asylbewerber aus, weil das einer Aufforderung
zur illegalen Einwanderung gleichkomme. Migrationsdebatten waren so
unterirdisch, wie sie es heute noch sind. Und Pleitemilliardäre aus der
Baubranche, auch die hat es damals schon gegeben. Ja genau, Jürgen
Schneider, der Frankfurter Baulöwe. So waren sie damals, die Zeiten.
Dass die auch mal richtig scheiße sein konnten, bekam [3][Brachialsatiriker
Wiglaf Droste] zu spüren. Der hatte in einen Text seine Befürchtungen zum
Ausdruck gebracht, ein Mann könne von allzu eifrigen Aktivistinnen schnell
mal zu Unrecht als Pädokrimineller bezeichnet werden. Feministische
Aktivistinnen versuchten in der Folge, Lesungen Drostes zu verhindern,
bearbeiteten Veranstaltungsräume mit Fäkalien. Das Wort Canceln war damals
noch nicht gebräuchlich. Saftige Debatten um Zensur und Diskurshygiene sehr
wohl. Die wurden auch in der taz geführt, auf deren Wahrheitseite viele
jener Satiriker schreiben, mit denen Schlosser verkehrt.
## Tote Ostler
Da erschien als Vorabdruck auch der „große Wenderoman“, den Schlosser
zusammen mit Droste zusammengeschraubt hat. [4][„Der Barbier von Bebra“]
ist eine Schauergeschichte, in deren Verlauf ein DDR-Bürgerrechtler nach
dem anderen auf übelste Weise ermordet wird. Nicht schlecht gestaunt haben
muss jedenfalls die Chefredaktion der taz, als Vera Lengsfeld, damals
Bundestagsabgeordnete für Bündnis90/Die Grünen, zum Boykott der damals noch
regelmäßig für das Überleben bettelnden taz aufgerufen hat.
„Eine Zeitung, die literarische Anleitungen zum Mord an Andersdenkenden […]
druckt, benötigt eine Denkpause“, schrieb sie doch tatsächlich, weil sie es
alles andere als witzig fand, dass jemand sich ausmalt, wie es wohl wäre,
wenn man die Puhdys in Frittenfett totbrutzeln oder Wolfgang Thierse mit
einer Klarinette erstechen würde. Es war ja noch nicht zu ahnen, zu welcher
weiten Reise über die CDU nach ganz rechtsaußen Vera Lengsfeld noch
antreten würde. Damals jedenfalls war für sie die Zeit noch nicht reif,
DDR-Bürgerrechtlerinnen als gleichberechtigte Objekte der Satire in die
neue BRD zu integrieren.
In Wahrheit war es natürlich Gerhard Henschel selbst, der mit Droste
zusammen das Mordsmachwerk verfasst hat. Ein wahres Schelmenstück, das der
Autor seinem Roman-Ich da zuschustert, so wahr wahrscheinlich wie all die
Frauengeschichten, die Schlosser mal mehr, mal weniger verliebt in
irgendwelchen Betten erleben darf. Auch Satiriker können begabte Macker
sein. All das macht den fidelen Schlosser jedenfalls ebenso glücklich wie
all die Bekanntschaften mit den Autoren, mit denen er landauf, landab bei
Lesungen auftritt, mit denen er säuft oder an einem
Theodor-W.-Adorno-Ähnlichkeitswettbewerb teilnimmt.
Am Ende sind es doch arg viele Namen, die einem da ans Herz gelegt werden.
Und mit fast allen macht der wackere Schlosser irgendwas: Mit Eckhard
Henscheid arbeitet er an einer „Kulturgeschichte der Missverständnisse“ und
mit Günther Willen sammelt er Promistimmen zum Wembleytor, jenem
vermeintlichen 3:2 der Engländer im WM-Finale von 1966, die in das Buch
„Drin oder Linie? – Alles übers dritte Tor“ münden.
Der 74er-Weltmeister Paul Breitner hatte dazu nicht mehr beizutragen als
die These, das sei doch „Schnee von gestern“. Was soll es auch sonst sein?
Alles, was Henschel in seinen Schelmenroman packt, ist irgendwie von
gestern, auch wenn bisweilen der Eindruck entsteht, die Welt habe sich seit
den 90ern nicht wirklich weitergedreht.
24 Mar 2024
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## AUTOREN
Andreas Rüttenauer
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