# taz.de -- Antisemitismusvorwürfe auf der Berlinale: Die Provinzialität des … | |
> Der CDU-Kultursenator bezeichnete die Äußerungen von | |
> Berlinale-PreisträgerInnen als antisemitisch und gratismütig. Ihm selbst | |
> fehlte jeder Mut. | |
Bild: Sagt seine Meinung manchmal erst im Nachhinein: Kultussenator Joe Chialo … | |
Claudia Roth hat’s vergurkt: Mit ihrem Applaus bei der | |
Berlinale-Preisverleihung am vergangenen Wochenende und [1][einem Tweet, | |
der diesen erklären sollte], wollte sie irgendwie alles richtig machen und | |
hat sich zwischen alle Stühle gesetzt. Die Kulturstaatsministerin ließ auf | |
X klarstellen, sie habe bei der Closing Ceremony im Berlinale-Palast | |
[2][für den jüdischen Israeli Yuval Abraham geklatscht] – der freilich die | |
Dankesrede für den Dokumentarfilmpreis gemeinsam mit seinem | |
palästinensischen Co-Regisseur Basel Adra hielt. | |
Für die einen ist klar, dass Roth mit ihrem Exklusivapplaus den | |
Palästinenser rassistisch ausgeblendet hat. Gleichzeitig erhob sich ein | |
tagelanger rechter Shitstorm, der ihren Rücktritt forderte, weil sie | |
überhaupt Beifall gespendet hatte. Und formal betrachtet stimmt es ja: | |
Abraham hatte sich nicht einfach „für eine politische Lösung und ein | |
friedliches Zusammenleben in der Region ausgesprochen“, wie die Ministerin | |
behauptete, er hatte die auch im Film gezeigte Situation in Israel und den | |
besetzen Gebieten explizit als „Apartheid“ bezeichnet. | |
Der international von kritischen BeobachterInnen – auch jüdischen und auch | |
israelischen wie Yuval Abraham – verwendete Begriff wird nicht nur in | |
vielen deutschen Medien, sondern auch von der Bundesregierung gern als | |
antisemitisch eingeordnet oder zumindest mit Antisemitismus in Verbindung | |
gebracht. Claudia Roth hatte ihn wahrscheinlich überhört und würde deshalb | |
wahrscheinlich am liebsten ihren Tweet wieder löschen oder die Klarstellung | |
klarstellen. Aber dass soziale Medien so nicht funktionieren, weiß sie | |
vermutlich. | |
Auch mit etwas zeitlichem Abstand jedenfalls bereitet es Kopfzerbrechen, | |
wie man ein paar politische Wortmeldungen, die die israelische | |
Kriegsführung in Gaza mit zehntausenden Toten und die humanitäre | |
Katastrophe dort anprangern, als lupenreinen Antisemitismus begreifen kann. | |
Besonders ungut: die Äußerungen von Berlins CDU-Kultursenator Joe Chialo, | |
der in mehreren Interviews kaum noch Superlative für die angeblichen | |
Abgründe fand. | |
„Das war Antisemitismus, das darf es in Berlin nicht geben“, urteilte | |
Chialo in den „Tagesthemen“ in Bezug auf die, so Interviewer Ingo | |
Zamparoni, „Täter“. „Gratismut“ hätten die RednerInnen auf der | |
Veranstaltung bewiesen, und leider, leider sei „das Publikum in der | |
Kulturszene nicht ganz so divers, wie man’s selber gerne sähe“, „nicht a… | |
Perspektiven“ seien repräsentiert, es träfen sich halt „Gleichgesinnte“… | |
das genaue Gegenteil von einem CDU-Parteitag also. | |
## Tiefe Provinzialität | |
Abgesehen davon, dass Chialo den vermeintlichen Skandal nun als Vorlage für | |
einen [3][zweiten Anlauf zu seiner abgeschmetterten | |
„Antisemitismusklausel“] für öffentlich geförderte KünstlerInnen machen | |
will: Solche Aussagen zeugen von tiefer Provinzialität. Würde Chialo sich | |
nicht nur über deutsche Zeitungen und Sender informieren, wüsste er, dass | |
in vielen anderen Ländern, gerade auch in den USA und Großbritannien, | |
gerade auch unter Kunstschaffenden und Intellektuellen, Kritik am Vorgehen | |
Israels keineswegs hinter vorgehaltener Hand geübt wird. Und wenn man ein | |
internationales Festival ausrichtet, sollte man sich nicht wundern, wenn | |
auch etwas davon ins kleine Berlin herüberschwappt. | |
Solches künftig – mit welchen Mitteln auch immer – verhindern zu wollen, | |
wie der Kultursenator, die Staatsministerin und andere nun verkünden, lässt | |
nichts Gutes erwarten. Muss die nächste Jury von Land und Bund abgenickt | |
werden? Wird die Unterzeichnung von Chialo-Klauseln zur Bedingung für | |
eingeladene FilmemacherInnen? Schafft man vielleicht gleich noch den | |
Panorama-Publikumspreis ab (man weiß ja nie)? | |
Chialo, der im „Tagesthemen“-Interview den KünstlerInnen empfahl, sie | |
sollten doch immer auch die Toten im Jemen und die Millionen Geflüchteten | |
im „Südsudan“ erwähnen (richtig war: Sudan), sagte an anderer Stelle noch | |
einen bezeichnenden Satz: Niemand im Publikum sei aufgestanden und habe | |
seine Meinung gesagt, „ich auch nicht“. Genau das aber hätte er tun könne… | |
und vielleicht wäre eine fruchtbare Debatte daraus entstanden. Wer als | |
Politiker und Gastgeber diesen Mut nicht hat, muss anderen auch keinen | |
„Gratismut“ vorwerfen. | |
1 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/BundesKultur/status/1762128051335279021 | |
[2] /Nach-Israel-Aeusserungen-auf-Berlinale/!5992242 | |
[3] /Antisemitismus-im-Kulturbetrieb/!5984346 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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