# taz.de -- Ein Graffiti in Rom wirft Fragen auf: Fußball-Fans und Märtyrer | |
> „Wer ist eigentlich Gabriele?“, wird die Autorin in einem Café im | |
> römischen Viertel EUR gefragt. Die Frage hatte sie sich auch schon | |
> gestellt. | |
Bild: Lazio Rom-Fans bei einem Spiel im Stadion | |
Vor einigen Wochen kam meine Berliner Freundin Miriam mich in Rom besuchen. | |
Wir fuhren ans Meer, liefen durch die Stadt, betraten kein einziges Museum, | |
noch nicht einmal eine Kirche, aßen sehr viel und redeten. Wir sprachen | |
über Beziehungen, das Schreiben, Bücher, Trauern, Sex und, zu meinem | |
eigenen Erstaunen, sogar über Fußball. Anfangs unbeabsichtigt. Wir wussten | |
gar nicht, dass wir es tun. | |
Wir saßen in einem Café in EUR, diesem Viertel, das einst von Mussolini für | |
die Olympischen Spiele in Auftrag gegeben und später von Michelangelo | |
Antonioni als Kulisse seiner Filme genutzt worden war, als sie plötzlich, | |
aus dem Nichts, vollkommen zusammenhangslos, zwischen einer Mini-Pizza und | |
einer Olive fragte: „Wer ist eigentlich Gabriele?“ Zuerst verstand ich | |
nicht. Ich kenne zwei oder drei Gabrieles, keinen davon besonders gut, | |
keinen davon so, dass ich ihn je erwähnt hätte, die Frage erschien mir | |
kryptisch. Keine Ahnung, sagte ich, wer soll das denn sein? | |
„In der Stadt sind überall Graffiti, die sagen: Gabriele vive. Gabriele | |
lebt. Hier auch schon wieder. Wer ist denn bloß dieser Gabri?“ Tatsächlich | |
habe ich mich das auch schon oft gefragt. In meiner Straße gibt es zwei | |
solcher Aufschriften. Gabriele vive. Gabriele vive. Jedes Mal, wenn ich | |
daran vorbeilaufe, denke ich, dass ich es nachschauen müsste, prüfen | |
müsste, was es mit diesem Gabriele auf sich hat, doch dann vergesse ich es | |
immer wieder, vielleicht weil man in Rom grundsätzlich dazu neigt, vieles | |
zu vergessen. | |
Glücklicherweise lebt Miriam nicht in Rom, sondern in Berlin und war | |
dementsprechend entschlossen, es herauszufinden. So haben wir an diesem | |
Nachmittag folgendes gelernt: Gabriele Sandri, „Gabbo“, war ein | |
[1][Fußballfan]. Ein Lazio-Rom-Fan, um genau zu sein. Ein Ultra. Er war 26 | |
Jahre alt, als er am Sonntag, dem 11. November 2007, an einer | |
Autobahntankstelle von einem Polizisten getötet wurde. | |
## Er war sofort tot | |
Es war ein Spieltag, [2][Lazio] gegen Juventus, Gabriele und seine Freunde | |
waren unterwegs nach Mailand, zum Spiel, als sie an einer Raststätte in der | |
Nähe von Arezzo auf Juventus-Fans trafen. Es brach eine Schlägerei aus. Man | |
rief die Polizei. Es wurden Warnschüsse abgefeuert. Sandri und seine | |
Freunde sprangen in ihr Auto und wollten davonfahren, als einer der | |
Polizisten das Auto verfolgte und zwei Mal in Richtung des Wagens schoss. | |
Einer der Schüsse traf Sandri in den Hals. Er war sofort tot. | |
Damals ging wohl eine Welle der Empörung durch das Land, ein Erdbeben, | |
nicht nur in Fußballkreisen: Weil ein junger Mann sinnlos zu Tode gekommen | |
war, weil man die Spiele an diesem Sonntag nur kurzzeitig unterbrach (als | |
ein Polizist wenige Monate zuvor kurz vor einem Match getötet worden war, | |
hatte man alle Spiele im gesamten Land abgesagt) und der Schütze, immerhin | |
ein Vertreter des Staates, nie Reue zeigte. | |
Das Ereignis heizte die ohnehin angespannte Situation zwischen Ultras und | |
Polizisten nur weiter an und vermittelte in Fußballkreisen offenbar das | |
Gefühl, ein Fan sei in den Augen der Autorität nicht mehr als ein Punkt in | |
einer Masse und sein Leben wenig wert. Es kam zu Protesten, Gewaltaktionen, | |
aber auch zu unerwarteten Solidaritätsbekundungen. | |
## Sogar Totti solidarisierte sich | |
Etwa vonseiten der AS Roma, dem eigentlichen Erzfeind von Lazio: | |
[3][Francesco Totti], der historische Kapitän der Roma-Mannschaft, war wohl | |
nicht nur bei der Beerdigung Sandris dabei, sondern rollte einst auch | |
während eines Spiels in Rom, direkt vor der Lazio-Nordkurve, eine Banderole | |
aus, die sagte: „Tränen kennen keine Farbe. Gabbo, einer von uns. Die | |
Südkurve.“ Als Totti, die römische Legende, vor einigen Jahren selbst in | |
Rente ging, wurde ihm dafür in der „curva nord“ mit einer Gegenbanderole | |
gedankt, auf der stand: „Die lebenslangen Feinde verabschieden Francesco | |
Totti! Irriducibili.“ | |
In solchen Momenten, so schlossen Miriam und ich aus unserer Recherche, | |
lebt Gabriele vielleicht wirklich. Als Fußball-Märtyrer, der eine Brücke | |
schlägt zwischen Ufern, die sonst nie zueinanderfinden. Was man gegen die | |
offen ausgelebten faschistischen Affinitäten seines Vereins Lazio tut, das | |
haben wir wiederum nicht herausgefunden. Vielleicht steht das an einer | |
anderen Hauswand. | |
12 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Fussball-Hooligans-in-Italien/!5191123 | |
[2] /Rechte-Fangewalt-in-Italien/!5078639 | |
[3] /Fussballkultur-in-Italien/!5151567 | |
## AUTOREN | |
Annabelle Hirsch | |
## TAGS | |
Kolumne La Strada | |
Fußball | |
Fankultur | |
Italien | |
Rom | |
Lazio Rom | |
Kolumne La Strada | |
AS Rom | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Italienischer und deutscher Fahrstil: Die Romantik des Autofahrens | |
Im Berliner Exil überfällt die Autorin die Sehnsucht nach Rom. Besonders | |
vermisst sie Italien, wenn sie auf dem Fahrersitz eines Autos sitzt. | |
Rechte Fangewalt in Italien: Eine bizarre Kneipenkeilerei | |
Bei Lazio Rom wird Antisemitismus toleriert. Verbindet dieser gar mit dem | |
Erzfeind AS Rom? Die Attacke auf Tottenham-Anhänger wirft etliche Fragen | |
auf. | |
Fußballkultur in Italien: Rassisten als Moralapostel | |
Mario Balotelli, Inter Mailands streitbarer Jungprofi, ist eines der großen | |
Talente des italienischen Fußballs. Weil er nicht weiß ist, wird er | |
beschimpft wie kaum ein Zweiter. | |
Fußball-Hooligans in Italien: "So ein Hass" | |
Der Schriftsteller F. C. Delius über aggressive italienische Fans und seine | |
deshalb schwindende Leidenschaft für den AS Rom. Er fordert: "Die | |
Begeisterung muss direkt aus dem Herzen kommen". |