| # taz.de -- Die Wahrheit: Jeder Maus ihr Päckchen | |
| > Zwischen Hamburg und Göttingen macht sich ein pendelnder Nager so seine | |
| > Gedanken über die deutsche Provinz. | |
| Bild: Raus aus der Falle, ab in den Metronom | |
| Im Metronom zwischen Hamburg und Göttingen wohnt eine Maus. Immer wieder | |
| behaupten Passagiere des Zugs, dass sie gesehen hätten, wie die Maus bei | |
| Halt kurz aussteigt und winzige Zigaretten raucht. Selbstgedrehte aus | |
| liegengelassenen Tickets, die ältere Passagiere noch gerne ausgedruckt | |
| dabeihaben. Das ist natürlich Quatsch. Die Maus hat vor zwei Jahren | |
| aufgehört zu rauchen. Ich weiß das, denn ich habe sie wirklich gesehen. | |
| Zugestiegen ist die Maus im zweiten Coronajahr. Ihre Altersgenossen waren | |
| einfach nur froh, in der wirtschaftlichen Katerstimmung ein sicheres | |
| Einkommen in der Speckfabrik zu haben. Die lief trotz Knurpsarbeit | |
| leidlich. Die Maus aber wollte nicht akzeptieren, dass es ab jetzt nur noch | |
| hieß: Arbeiten, Kinder kriegen, Kinder an vergiftete Hundeköder verlieren, | |
| neue Kinder kriegen, Kinder aus Not fressen, beim dritten Mal endlich die | |
| Kinder durchbringen und das alles nur während der Probezeit. | |
| ## Voller Fragen in Radbruch | |
| Also stieg die Maus aus beziehungsweise ein und zwar in den Metronom ab | |
| Hamburg und bei zirka 20 Fahrten pro Tag, je nach Wetter und Anzahl der | |
| sogenannten Schnellzüge, die der Metronom vorbeilassen muss, kennt sie die | |
| Strecke mittlerweile wie ihre Westentasche. Und in der ist nun wirklich | |
| nicht viel Platz. Auf ihren Fahrten hat die Maus eine hübsche Routine | |
| entwickelt: In Harburg, dem ersten Halt von Hamburg Richtung Göttingen aus, | |
| trifft sie regelmäßig die Taube, die auf der Strecke Hamburg – Bremen | |
| fährt, der anderen Metronom-Strecke. Die Maus wechselt allerdings nie ein | |
| Wort mit der Taube, weil sie findet, dass die Taube nicht nur ein Vogel | |
| ist, sondern auch einen hat. Als Herrscherin der Großstadtlüfte so tun, als | |
| müsse man im Metronom der Enge der Welt entfliehen: lächerlich! | |
| Der Zug fährt weiter und in Radbruch würde die Maus jedes Mal gerne | |
| aussteigen und den mittlerweile fast 90-jährigen Vorsitzenden des aufgrund | |
| von Nachwuchsmangel langsam aussterbenden Heimatvereins fragen, warum | |
| Radbruch Radbruch heißt, man hätte doch auch etwas Positiveres nehmen | |
| können, aber nie traut sie sich. So, wie sie es selbst nicht gerne hat, | |
| will auch die Maus niemandem auf die Füße treten. Auch wenn, und da muss | |
| sie jedes Mal etwas schmunzeln, die Frage bezüglich Radbruch an ihr nagt. | |
| ## Melancholisch in Unterlüß | |
| Lachen muss sie auch irgendwo vor Hannover, denn da liegt Celle. Die Stadt | |
| besitzt, so erzählen es Reiseführer, das „weltweit dichteste | |
| Fachwerk-Ensemble“ und auf den langen und manchmal, da ist die Maus ganz | |
| offen, auch einsamen Fahrten hat sie sich einen Witz dazu einfallen lassen: | |
| Falls sie je gefragt werden sollte, warum sie das Fachwerk-Ensemble nie | |
| angeschaut habe, wird sie als Maus antworten, dass jede Stadt auf dieser | |
| Route durch Niedersachsen reich an Fachwerk ist. Und deshalb gelte eben: | |
| Kennste eine, kennste Celle! | |
| In Hannover steigt die Maus um. Klar, Spaß macht das nicht, sie will ja | |
| vorankommen, aber auch zu Abenteuern gehört halt Alltag. Damit hat sich die | |
| Maus lange schon abgefunden. | |
| Wohlig melancholisch fühlt sich die Maus immer, wenn jemand die Schuhe | |
| ausgezogen hat. Das passiert meistens nach den kleinen Halten, Unterlüß | |
| oder Freden (Leine), denn wenn die Menschen vom Land ihre schöne Ordnung | |
| verlassen, dann meinen sie, Recht und Ordnung gälten nicht mehr, jetzt sei | |
| alles erlaubt und eben auch das Ausziehen der Schuhe im Zug. Die Maus freut | |
| es, sie legt sich dann gerne in die noch angenehm fußwarmen, schweißelnden | |
| Schuhe, die sie ans heimische Nest zu Feiertagen erinnern, wenn sich ein | |
| per Los gezogener Verwandter extra früh in die Falle gehauen hatte, um für | |
| die Familie den besten Käse zu besorgen. | |
| ## Traurig in Hamburg | |
| In Göttingen, der Endstation ihrer Metronom-Fahrt, war ihr mal ein Job in | |
| der Forschung angeboten worden. Geregelte Arbeitszeiten, eine | |
| Mitgliedschaft bei Mausrad – doch allein der Weg zur Lohnbuchhaltung wäre | |
| ein regelrechtes Labyrinth gewesen. So hatte sie letztlich doch abgelehnt, | |
| war aber noch zum Vorstellungsgespräch gegangen, die Maus bleibt ja | |
| neugierig und offen. | |
| Am Ende, wieder zurück in Hamburg, holt sie sich nicht selten einen | |
| Franzbrösel von einem Franzbrötchen und ist traurig. Schließlich hat sie | |
| hier die erste Hälfte ihres bisherigen Lebens verbracht, wirklich schöne | |
| drei Wochen waren das. Dauerhaft bleiben kann die Maus in der Hansestadt | |
| trotzdem nicht. Sie findet, jeder und jede hat eben sein Päckchen zu | |
| tragen. Auch wenn es nur ganz klein ist. Und ihres ist es halt, die Maus im | |
| Metronom zu sein. | |
| 1 Mar 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Ernst Jordan | |
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