| # taz.de -- Aufnahme von Afghan*innen: Endstation Islamabad | |
| > Tausende gefährdete Afghan*innen warten auf Schutz in Deutschland. | |
| > Doch immer wieder werden Aufnahmezusagen nach Monaten plötzlich | |
| > zurückgenommen. | |
| Bild: Hoffen auf Schutz in Europa: Eine junge Afghanin unterrichtet in einer Wo… | |
| Berlin taz | Wir sind arm. Es ist sehr kalt hier. Meine Tochter zittert die | |
| ganze Zeit“, schreibt Khadija Mohammadi per Whatsapp. „Ich weiß nicht mehr, | |
| was ich tun soll.“ Vor wenigen Stunden mussten die Afghanin, ihr Mann und | |
| die anderthalbjährige Tochter aus der von den deutschen Behörden gestellten | |
| Unterkunft in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad ausziehen. Eigentlich | |
| hatten Mohammadi und ihre Familie eine Aufnahmezusage für Deutschland. Doch | |
| für sie völlig unerwartet wurde diese zurückgenommen. | |
| Mohammadi ist kein Einzelfall. Die taz hat mit mehreren Menschen | |
| gesprochen, die ebenfalls auf Schutz in Deutschland gehofft hatten, und | |
| deren Aufnahmezusage plötzlich zurückgezogen wurde. Die entsprechenden | |
| Unterlagen liegen der taz vor. Aus Sorge um ihre Sicherheit und die ihrer | |
| Familien sind die Namen der Betroffenen in diesem Text geändert. | |
| [1][Seit August 2021 sind in Afghanistan wieder die Taliban an der Macht]. | |
| Für gefährdete Afghan*innen gibt es mehrere Wege, Zuflucht in | |
| Deutschland zu finden: Neben dem Ortskräfteverfahren etwa für ehemalige | |
| Angestellte der Bundeswehr ist dies vor allem das im Oktober 2022 | |
| gestartete Bundesaufnahmeprogramm. | |
| Über dieses sind bisher [2][aber lediglich 105 Menschen nach Deutschland | |
| eingereist]. Rund 32.000 Menschen konnten hingegen über die inzwischen | |
| geschlossene Menschenrechtsliste und das sogenannte Überbrückungsprogramm | |
| einreisen. Auch die Protagonist*innen dieses Textes erhielten darüber | |
| ihre Zusagen. | |
| ## Monatelanges Prozedere | |
| Doch offenbar steht nur in Zusagen für das Bundesaufnahmeprogramm | |
| ausdrücklich, dass diese lediglich unter Vorbehalt sind. In anderen | |
| Zusage-Mails, die der taz vorliegen, ist davon nicht die Rede. Betroffene | |
| nähmen diese oft als Versprechen auf, sagt Elaha Hakim von der | |
| [3][Hilfsinitiative Kabul Luftbrücke]. Sie würden nicht darüber aufgeklärt, | |
| dass es sich lediglich um eine Zusage zur Vorsprache bei der Botschaft | |
| handle. | |
| So ging es auch Mohammadi. Sie hatte bis zum Sturz der Republik für eine | |
| afghanische Nichtregierungsorganisation mit internationalen Kontakten | |
| gearbeitet. Diese hatte sie dann auch für die humanitäre Aufnahme in | |
| Deutschland vorgeschlagen. Nach einer ausführlichen Gefährdungsbeschreibung | |
| und der Zusendung von Passkopien, Ehe- und Geburtsurkunde fand eine Prüfung | |
| durch das deutsche Außen- und Innenministerium statt. | |
| Neun Monate später habe sie ihre Aufnahmeerklärung erhalten, berichtet | |
| Mohammadi. Auch die [4][Ausstellung eines Passes für ihre Tochter sowie der | |
| Visa für Pakistan war langwierig]. Schließlich konnte die Familie nach | |
| Islamabad reisen. | |
| Diesen Umweg müssen alle Schutzsuchenden aus Afghanistan nehmen: Eine | |
| direkte Ausreise nach Deutschland ist seit dem Ende der militärischen | |
| Evakuierungsflüge kurz nach der Machtübernahme der Taliban nicht mehr | |
| möglich. Stattdessen finden die Visaverfahren in Pakistan statt. | |
| [5][Anfangs war die Ausreise auch über den Iran möglich.] | |
| ## Lage für Frauen besonders brenzlig | |
| „Wir hatten einen Termin, bei dem unsere biometrischen Daten genommen | |
| wurden und einen weiteren mit persönlichen Interviews“, erzählt Mohammadi. | |
| Dann plötzlich die E-Mail, anderthalb Jahre nach der ursprünglichen Zusage: | |
| Eine erneute Prüfung durch das Bundesinnenministerium (BMI) habe ergeben, | |
| dass doch kein Grund für eine Aufnahmezusage bestehe. Näher begründet wird | |
| diese Aussage nicht. „Ich wollte meiner Tochter ein perfektes Leben | |
| bieten“, sagt Mohammadi, „weit weg von den Übeln Afghanistans.“ Stattdes… | |
| müsse sie nun auf ein Wunder hoffen. | |
| Eine Mail mit demselben Wortlaut, ganz offensichtlich ein Standardtext – | |
| nur die Namen und Daten unterscheiden sich – hat auch Hila Ahmadi erhalten. | |
| Ein Jahr lang war sie Staatsanwältin. Sie habe Jura studiert, um etwas an | |
| der Gewalt gegen Frauen ändern zu können, erzählt Ahmadi. Als eine der | |
| Jahrgangsbesten schloss sie ihr Studium ab und trat ihre Arbeit für die | |
| Generalstaatsanwaltschaft Kabul an. | |
| Doch die Taliban verboten ihr, zu arbeiten. Stattdessen sei sie nun selbst | |
| gefährdet gewesen. „Ich habe um Hilfe gebeten, das deutsche Außen- und | |
| Innenministerium kontaktiert“, schildert sie. Schließlich habe sie Anfang | |
| 2023 eine Aufnahmeerklärung für ihren gesamten Haushalt erhalten: für sich | |
| selbst, ihre Mutter, ihren jüngeren Bruder und die noch minderjährige | |
| Schwester. Der Vater ist gestorben, Ahmadi ist unverheiratet. Weil man sich | |
| in Afghanistan nur in männlicher Begleitung bewegen darf, war die Lage für | |
| den fast reinen Frauenhaushalt besonders brenzlig. | |
| Davon, dass die Aufnahmeerklärung auch wieder zurückgenommen werden könne, | |
| ist in der ausführlichen E-Mail nicht die Rede – wohl aber davon, dass noch | |
| ein Visumverfahren durchlaufen werden muss: „Diese [Aufnahme-]Erklärungen | |
| bilden die Basis für Ihre folgenden Visumbewerbungen“, heißt es dort. | |
| ## Nach der Absage müssen sie ausziehen | |
| Als Nächstes musste die Familie Pässe besorgen. „Als wir die endlich | |
| hatten, hieß es, dass die deutsche Botschaft geschlossen ist“, berichtet | |
| Ahmadi. Tatsächlich hatte Deutschland während der Einführung einer | |
| zusätzlichen Sicherheitsbefragung für drei Monate alle Aufnahmen gestoppt. | |
| [6][Grund dafür waren Medienberichte, über das Programm würden | |
| „Scharia-Richter“ aufgenommen.] Das Auswärtige Amt widersprach dem, die | |
| Sicherheitsüberprüfung wurde trotzdem verschärft. Gerade Jurist*innen | |
| wurden nochmals auf eine fundamentalistische Haltung hin überprüft. | |
| Ahmadi war davon nicht betroffen. Im September schaffte die Familie es nach | |
| Pakistan. Bis sie ihre Termine bei der Botschaft bekamen, vergingen | |
| nochmals mehrere Monate. Dann die Enttäuschung: „Wir warteten nur noch auf | |
| unsere Flüge nach Deutschland und stattdessen erhielten wir auf einmal eine | |
| Absage“, erzählt Ahmadi. | |
| Zurück nach Afghanistan könnten sie auf keinen Fall gehen: „Dort werden | |
| [7][Mädchen und Frauen von den Taliban von der Straße weggeholt], sie | |
| nehmen sie einfach mit“, sagt Ahmadi. Zwei Tage nach dem Gespräch mit der | |
| taz müssten sie aus der von Deutschland finanzierten Unterkunft ausziehen, | |
| dann wüssten sie nicht, wo sie unterkommen sollen: „Wir haben hier | |
| niemanden, der uns unterstützt. Wir wissen nicht weiter.“ | |
| Majid Azizi hingegen ist mit seiner Familie nach Afghanistan zurückgekehrt: | |
| „Unsere Visa waren abgelaufen, wir konnten nicht in Pakistan bleiben“, | |
| berichtet er. Seine Situation sei nun schlechter als vor dem Versuch, nach | |
| Deutschland zu gelangen. „Die Visa und Pässe waren sehr teuer, ich habe | |
| mein Haus dafür verkauft, fast alles, was ich besaß“, sagt er. | |
| ## Mehrere hundert Fälle | |
| Azizi hat früher als Arzt in einem Militärkrankenhaus gearbeitet. Schon zu | |
| Zeiten der Republik sei er deswegen immer wieder von den Taliban bedroht | |
| worden. Nachdem diese die Macht an sich gerissen hatten, wandte er sich | |
| hilfesuchend nach Deutschland, erhielt schließlich für sich und seine | |
| Familie eine Aufnahmezusage im Überbrückungsprogramm. | |
| Im November hatten sie in Islamabad ihre Interviewtermine. „Dann warteten | |
| wir weitere vier Monate und erhielten überraschend eine Absage“, so Azizi. | |
| Dabei sei ihm nach der Befragung von den deutschen Beamten noch gesagt | |
| worden, dass diese sehr gut verlaufen sei. | |
| „Seit Herbst 2022 haben uns zunehmend Hilfsanfragen von Familien erreicht, | |
| die eine Ablehnung im Visaverfahren an der deutschen Botschaft in Islamabad | |
| erhalten haben“, sagt Elaha Hakim von Kabul Luftbrücke. Anfangs seien es | |
| wenige gewesen, inzwischen kämen immer mehr solcher Meldungen. | |
| Viele der betroffenen Familien befänden sich zu dem Zeitpunkt bereits seit | |
| Monaten in Pakistan und hätten all ihr Hab und Gut verkauft, um die | |
| Ausreise zu finanzieren. So fehle zusätzlich zur Gefährdung auch materiell | |
| jegliche Rückkehrperspektive. Die Hilfsinitiative Kabul Luftbrücke schätzt, | |
| dass mehr als 300 Personen betroffen sind. Darunter sind auch Menschen, | |
| deren Sicherheitsbefragung noch gar nicht stattgefunden hat. Eine | |
| Begründung bekamen die Betroffenen in keinem der Fälle, die der taz | |
| vorliegen. | |
| ## BMI sieht kein Problem | |
| Das Bundesinnenministerium antwortet auf taz-Anfrage nicht, wie viele | |
| Aufnahmeerklärungen bislang zurückgenommen wurden. Auch unbeantwortet | |
| bleibt die Frage, welche Rolle dabei die Ergebnisse der | |
| Sicherheitsbefragungen gespielt haben. | |
| „Die Aufnahmen im Rahmen der Aufnahmeverfahren aus Afghanistan stehen stets | |
| unter dem Vorbehalt, dass sich im weiteren Verfahren keine | |
| sicherheitsrelevanten Erkenntnisse ergeben und das Visumverfahren | |
| erfolgreich durchlaufen wird“, heißt es bloß allgemein. Hierbei könnten | |
| sich in jedem Stadium des Verfahrens Erkenntnisse ergeben, die dazu | |
| führten, dass eine Aufnahme aufgehoben werde. Auf die Frage, warum zwischen | |
| den einzelnen Prüfschritten oft viele Monate vergehen, antwortet das | |
| Ministerium: Die Verfahrensdauer sei „abhängig vom konkreten Einzelfall“. | |
| Die monatelange Ungewissheit führe bei den Betroffenen zu zusätzlichem | |
| psychischem Stress, so Hakim von Kabul Luftbrücke. „Es handelt sich hier um | |
| Menschen, deren Gefährdung die Bundesregierung bereits anerkannt hat, die | |
| zum Teil aus akuter Lebensgefahr fliehen mussten und die bereits | |
| traumatische Erfahrungen wie Folter oder sexualisierte Gewalt durchlebt | |
| haben“, sagt Hakim. „Wie ist das mit einem verantwortungsvollen Umgang mit | |
| Schutzbefohlenen vereinbar?“ | |
| 25 Feb 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Lena Reiner | |
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