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# taz.de -- Stahlwerk im italienischen Tarent: Zum dritten Mal verstaatlicht
> Das Stahlwerk in Apulien ist eines der größten in Europa. Nun stellt es
> Italiens Regierung unter staatliche Aufsicht. 8.000 Jobs sind gefährdet.
Bild: Möglicherweise ein Milliardengrab – und jetzt vom Staat gelenkt: Stahl…
Rom taz | Italiens Regierung legt sich ein Stahlwerk zu. Am Montag fiel der
Beschluss, das Stahlwerk im süditalienischen Tarent unter die Verwaltung
eines vom Staat bestellten Kommissars zu stellen und damit den bisherigen
privaten Mehrheitseigner, den indisch-französischen Mega-Konzern
ArcelorMittal, aus dem Unternehmen zu drängen.
Acciaierie d’Italia (ADI) heißt das Unternehmen, um das es geht. Bisher ist
dort ArcelorMittal mit 62 Prozent beteiligt, während die öffentliche Hand
über die staatliche Investitionsgesellschaft Invitalia bereits 38 Prozent
hält. Und ADI ist heillos überschuldet. Die Verbindlichkeiten betragen mehr
als 3 Milliarden Euro.
Allein die unbezahlten, aber fälligen Rechnungen an Lieferanten und
Subunternehmer summieren sich auf gut 500 Millionen Euro. In den letzten
Monaten zahlte ADI weder die Gaslieferungen noch die zahlreichen
Fuhrunternehmen in ihren Diensten. Ende Februar hätte die endgültige
Zahlungsunfähigkeit gedroht.
Wenn jetzt im Werk in Tarent (und an weiteren sieben kleineren Standorten
der ADI) der Staatskommissar übernimmt, dann ist das ein Déjà-vu: Zum
dritten Mal in seiner wechselvollen Geschichte wird das Unternehmen zum
Staatsbesitz – und zum dritten Mal soll es in möglichst naher Zukunft
wieder privatisiert werden.
## In den 80ern 40.000 Arbeitsplätze
Das Werk von Tarent ist eines der größten in Europa. Es entstand im Jahr
1965 als staatliches Unternehmen des öffentlichen Konzerns Italsider, der
bis in die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts das Gros der
Stahlproduktion im Land hielt. Die Investition in Apulien war zentraler
Bestandteil der Politik, die auf Entwicklung des industriell
zurückgebliebenen Südens des Landes zielte. Tarent wurde zum größten
Stahlstandort des Landes; mehr als 40.000 Menschen bei der Firma selbst und
bei den Subunternehmen fanden hier in den frühen 80er Jahren Arbeit.
1995 dann schlug die Stunde der Privatisierung. Die Familie Riva übernahm
in Tarent. Unter ihr setzte sich fort, was in den Zeiten der staatlichen
Führung begonnen hatte: Das Werk war Wirtschaftsfaktor Nummer eins in der
ärmlichen Region – es war zugleich aber auch ein ökologisches Desaster. Vor
allem der Stadtteil Tamburi, direkt hinter den Hochöfen und der Kokerei
gelegen, wurde Opfer massiver Umweltverschmutzung.
Die Eigentümer kümmerte das nicht weiter. So dachten sie keineswegs daran,
die Halden von Eisenerz und Kohle im Werk zu überdachen, um endlich der bei
Wind gegebenen Abdrift giftigen Staubs in Richtung der Wohnviertel zu
unterbinden. Derweil verzeichneten die Gesundheitsbehörden in Tarent und
vorneweg im Stadtteil Tamburi deutlich erhöhte Krankheits- und auch
Todeszahlen bei Tumoren, Herz-/Kreislauf- und Atemwegserkrankungen.
## Ein Konkurrent weniger für ArcelorMittal?
Diese Öko- und Gesundheitskatastrophen führten schließlich zum Ende der Ära
der Familie Riva. Im Jahr 2012 klagte die Staatsanwaltschaft Tarent die
Eigentümer wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Umweltgefährdung
durch die giftigen Substanzen an – und beschlagnahmte kurzerhand das ganze
Werk. Damit war der Staat wieder zurück, mit von ihm eingesetzten
kommissarischen Verwaltern. Die allerdings hatten den Auftrag, erneut einen
privaten Investor zu finden, und im Jahr 2017 erhielt ArcelorMittal mit
einem Angebot von 1,8 Milliarden Euro den Zuschlag.
Doch Tarent wurde für den globalen Konzern mit 60 Stahlwerken nicht zur
Erfolgsgeschichte. Schon im Jahr 2019 häuften sich Verluste von fast 900
Millionen Euro an, 2020 kamen noch einmal 270 Millionen Euro hinzu – und
der in Luxemburg ansässige Konzern verlor die Lust am Investment. Daraufhin
stieg der Staat wieder als Minderheitsaktionär ein, legte 650 Millionen
Euro auf den Tisch und erhielt 38 Prozent der Anteile. Allerdings konnten
sich private und staatliche Gesellschafter nicht über Zukunftsstrategien
und Investitionen einigen. ArcelorMittal ließ zuletzt wissen, es wolle kein
Kapital mehr zuschießen. Dies verstärkte den in Tarent von den
Gewerkschaften geäußerten Verdacht, der Konzern habe Tarent nur übernommen,
um das Werk vor die Wand zu fahren – und so einen lästigen Konkurrenten auf
dem europäischen Markt auszuschalten.
Damit aber hätte das Aus der größten Stahlschmiede Italiens gedroht, die in
Tarent etwa 8.000 Menschen beschäftigt und eine Kapazität von bis zu 8
Millionen Tonnen jährlich hat, auch wenn gegenwärtig nur 3 Millionen Tonnen
produziert werden.
Deshalb zog die Regierung jetzt die Notbremse. ArcelorMittal zeigte sich in
einer Erklärung „überrascht und enttäuscht“ über die Einsetzung des
Staatskommissars an der Firmenspitze von ADI und kündigte juristische
Schritte an. Ob die Rettung des Standorts Tarent gelingt, steht nicht nur
deshalb in den Sternen.
Schon jetzt muss die Regierung mehr als 300 Millionen Euro auf den Tisch
legen, um den weiteren Betrieb kurzfristig zu ermöglichen. Gleichzeitig
kündigte sie an, für das ganze Jahr 2024 Nullkurzarbeit für einen Großteil
der Beschäftigten im Stahlwerk zu finanzieren. Tarent könnte sich deshalb
bald als Milliardengrab entpuppen, ohne dass eine langfristige Rettung des
Werks absehbar wäre.
20 Feb 2024
## AUTOREN
Michael Braun
## TAGS
Stahlindustrie
Italien
Verstaatlichung
ThyssenKrupp
Konjunktur
DDR
Lesestück Recherche und Reportage
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