| # taz.de -- Erzählungen von Michela Murgia: Ein Name für den Tumor | |
| > „Drei Schalen“ heißt das letzte Buch der 2023 verstorbenen italienischen | |
| > Schriftstellerin Michela Murgia. Es handelt von persönlichen Krisen. | |
| Bild: Zu Beginn des Buchs befindet sich die Protagonistin in einem Krankenhausz… | |
| Die Trennung von Werk und Autor ist eine der meistdiskutierten Debatten in | |
| der Literaturwissenschaft, eine Debatte, die immer wieder auftaucht und | |
| selten durch originelle Beiträge bereichert wird. Auch das neue Buch von | |
| Michela Murgia bietet sich für diese Diskussion an, vor allem die erste der | |
| zwölf darin versammelten Erzählungen. | |
| Es ist die Geschichte einer Frau, die gerade die Diagnose einer tödlichen | |
| Krankheit erhalten hat und versucht, diese Krankheit so gut es geht zu | |
| begreifen. Als das Buch beginnt, befindet sich die Protagonistin in einem | |
| römischen Krankenhauszimmer, die Mittagssonne scheint durch die Fenster, | |
| ihr gegenüber, noch mit Mundschutz wie in den besten Pandemiezeiten, sitzt | |
| der Arzt. | |
| Ist die Ich-Erzählerin die Autorin selbst? Als der italienischen | |
| Schriftstellerin Michela Murgia diese ebenso legitime wie erwartbare Frage | |
| gestellt wurde, weil sie kurz vor Erscheinen des Buches ihre Krebsdiagnose | |
| öffentlich gemacht hatte, antwortete sie bewusst unbestimmt. „Alles und | |
| nichts ist autobiografisch“, sagte Murgia. Die Geschichten seien so | |
| geschrieben, dass sich jeder mit den erzählenden Stimmen identifizieren | |
| könne. | |
| [1][Michela Murgia ist im vergangenen August im Alter von 51 Jahren viel zu | |
| früh verstorben.] „Drei Schalen“ ist das letzte Buch, das sie zu Lebzeiten | |
| veröffentlicht hat (gerade ist in Italien ein posthumes Buch erschienen). | |
| In den Erzählungen reihen sich Menschen aneinander, die zwar | |
| unterschiedlich sind, aber alle auf die eine oder andere Weise versuchen, | |
| aus einer Krisensituationen herauszukommen: | |
| Die eine Frau sucht einen Namen für ihren Tumor, die andere hat mit dem | |
| Ende einer Beziehung und ständigem Erbrechen zu kämpfen, eine andere hasst | |
| Kinder und ist dennoch bereit, als Leihmutter zu fungieren, ein Mann | |
| verfällt in Pandemie-Paranoia, ein anderer traut sich kaum noch vor die | |
| Tür, aus Angst, seine Exfreundin zu treffen. | |
| Inwieweit die Protagonist:innen miteinander verflochten sind, wird | |
| nicht erklärt: Das zugrundeliegende Ereignis ist aber das gleiche. Und das | |
| ist, um die [2][amerikanische Schriftstellerin Joan Didion] zu zitieren: | |
| „Das Leben ändert sich in einem Augenblick. Man setzt sich zum Abendessen, | |
| und das Leben, das man kennt, hört auf“. | |
| ## Nicht im Faschismus sterben | |
| Michela Murgia war eine von diesen Autor:innen, die die großen | |
| gesellschaftlichen Debatten nicht scheuen und sich nicht in die eigene | |
| Schreibidylle zurückziehen. Wäre die aus der Mode gekommene Kategorie | |
| „engagierte Intellektuelle“ noch gültig, würde man sie ihr zuordnen. | |
| Als Feministin hat sie gegen das Patriarchat gekämpft; als Antifaschistin | |
| ist sie nie der Versuchung erlegen, den wachsenden Rechtsextremismus in | |
| Italien zu verharmlosen (in einem Interview sagte sie, das Wichtigste sei | |
| es, nicht im Faschismus zu sterben); als eine der Ersten hat sie die Fallen | |
| der modernen Arbeitswelt erkannt und kritisiert. | |
| Das brachte ihr nicht nur Ruhm ein, sondern auch Hass und Wut. In den | |
| letzten Monaten ihres Lebens sprach sie öffentlich über ihre Diagnose und | |
| setzte sich für die Rechte von Menschen ein, die in anderen Konstellationen | |
| als der klassischen Vater-Mutter-Kinder-Zusammensetzung leben. | |
| Die Zeit, die ihr noch blieb, verbrachte sie mit ihrer „queeren Familie“, | |
| wie sie es nannte: einer Familie, die nicht auf Blut, sondern auf Willen | |
| und freien Entscheidungen beruhte. | |
| ## Unkonventionelle Biografie | |
| Michela Murgia hatte eine abwechslungsreiche und durchaus unkonventionelle | |
| Biografie: Sie arbeitete unter anderem als Call-Center-Agentin, Kellnerin, | |
| Nachtportierin in einem Hotel, Religionslehrerin in Schulen, Verwalterin in | |
| einem Kraftwerk. Vielseitig war auch ihre Tätigkeit als Autorin: Sie | |
| schrieb Romane, Essays, Erzählungen, Zeitungskolumnen, auch als Podcasterin | |
| war sie unterwegs. | |
| Stilistisch ist „Drei Schalen“ nicht das gelungenste ihrer Bücher, die | |
| Protagonisten und ihre Gewohnheiten sind zum Teil unfreiwillig grotesk. Mit | |
| dem internationalen Erfolg ihres gefeierten Romans „Accabadora“ und [3][der | |
| Dringlichkeit ihrer politischen Texte] kann es sicher nicht mithalten, aber | |
| wahrscheinlich war das auch wohl nicht das Ziel der Autorin. Vielmehr | |
| wollte Murgia mit diesem Buch ihre persönliche Krise verarbeiten und | |
| teilen. | |
| „Für Michela war das Teilen das Wichtigste“, sagte der | |
| Anti-Mafia-Schriftsteller Roberto Saviano, ein guter Freund von ihr, bei | |
| der Beerdigung. | |
| 5 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Francesca Polistina | |
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