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# taz.de -- Literaturfestival in Sardinien: Das Starsystem ist abgeschafft
> So hat man sich Italien immer erträumt: herzlich, kulturinteressiert,
> gastfreundlich. Das Literaturfestival im sardinischen Dorf Gavoi
> überzeugt durch seine familäre Atmosphäre.
Bild: Auch junge Talente, die mit einem Erstlingswerk reüssiert haben, sind am…
Kaum sind die beiden Redner auf dem Podium fertig, da kommt die Diskussion
in Fahrt. Antonio Pascale, durch seine Auftritte im italienischen Fernsehen
bekannter Intellektueller, nimmt den deutschen Soziologen Meinhard Miegel
aufs Korn. Seine Vorschläge zum Ausstieg aus dem Wachstum seien recht
besehen eine Unverschämtheit, der Soziologe wolle doch bloß die ärmeren
Länder auf ewig in Armut halten.
Miegel antwortet gelassen, und 1.300 Menschen auf der Piazza hören
konzentriert zu. Szenen von einem Literaturfestival, nichts Ungewöhnliches
eigentlich, wenn da nicht der Ort wäre, an dem sich der Disput zuträgt:
Gavoi.
Völlig aus der Welt ist das kleine sardische Dorf mit gerade einmal 2.800
Einwohnern. Es liegt im Inselinneren, in der vor wenigen Jahren noch
einigermaßen berüchtigten Barbagia, dem „Barbarenland“, um das auch die
antiken Römer nach der Eroberung Sardiniens immer einen weiten Bogen
schlugen.
Stein- und Korkeichenwälder machen die Gegend für sardische Verhältnisse
ungewöhnlich grün, doch das Städtchen Orgosolo – noch vor zwei, drei
Jahrzehnten Zentrum des sardischen Banditentums – liegt gleich um die Ecke,
und so manches Entführungsopfer wurde in den Siebziger- und Achtzigerjahren
ins nahe Bergmassiv des Supramonte verschleppt.
## Debatte über die „Felicità“
Trotz seines schönen, in hellem Granit gemauerten Dorfkerns verirren sich
selten Gäste nach Gavoi – außer in den ersten Julitagen, wenn hier eins der
ungewöhnlichsten Literaturfestivals Italiens steigt. Es ist kurz vor zwölf
Uhr mittags, die nächste Debatte steht an, über die „Felicità“, das Glü…
und die Auswärtigen brauchen keinen Plan, um den Platz zu finden.
Sie müssen einfach den Klängen der Launeddas folgen, der uralten sardischen
Flöten, deren Melodien von weither herüberwehen. Junge sardische Musiker
leiten jede der Veranstaltungen der „Isola dei libri“, der „Insel der
Bücher“ – so der offizielle Festivaltitel – ein, doch ansonsten geht es
hier nicht um Regionalfolklore, um Heimatliteratur oder gar kitschige
Beschwörung des Sardentums.
Schriftsteller aus ganz Italien, aus Polen, Rumänien, Österreich
diskutieren ihre Werke. Bestsellerstars wie die US-amerikanische Tess
Gerritsen sind genauso da wie junge Talente, die mit einem Erstlingswerk
reüssiert haben. Und dank des Engagements des Goethe-Instituts Italien ist
gleich eine ganze Schar Deutscher gekommen: Meinhard Miegel,
Büchnerpreisträger F. C. Delius, der Krimi-Autor Peter Probst.
## „Ciao Peter“
Keiner aber muss sich sorgen, wie bekannt oder unbekannt er oder sie ist:
Das Starsystem ist in Gavoi abgeschafft. In den Bars, am Schafskäsestand
oder an den vielen langen Tischen entlang der Straßen, an denen die
Festivalgäste mittags und abends tafeln: Wer immer auf einem Podium
teilgenommen hat, darf sich darauf einstellen, von den Gavoiesern und den
anderen Festivalgästen völlig unbefangen angesprochen und in ein Gespräch
verwickelt zu werden.
Peter Probst, der auf Einladung des Festivals und des Goethe-Instituts
einen Monat als Resident in Gavoi verbracht hat und hier seinen Krimi „Im
Namen des Kreuzes“ – der sich um pädophile Priester dreht – vorstellt,
bringt es auf den Punkt: „In meinem bayerischen Dorf hat mich in 22 Jahren
nie jemand zu sich nach Hause eingeladen, hier dagegen war ich bei
unheimlich vielen Leuten zu Gast.“
Während er das sagt, schallt ein „Ciao Peter“ über die Straße, von ein p…
jungen Männern, die vor einem Geschäft stehen. Hinterher sieht man sie bei
der nächsten Veranstaltung, genauso wie 80-jährige Mütterchen und alte
Männer mit wettergegerbten Gesichtern.
Das ganze Dorf ist da, und wer nicht kann, ist dennoch dabei: „Ich hab Sie
gestern gesehen – im Live-Stream“, sagt der Zeitschriftenhändler einem
prominenten Journalisten und beginnt dann gleich eine Diskussion.
## Ein selbstverständliches Fest
Keiner ist hier wichtiger als der andere, das ist die Botschaft, die die
Gavoieser auf die denkbar liebenswürdigste Art ihren von weither
angereisten intellektuellen Gästen geben. Und auch Michela Murgia und
Marcello Fois, die beiden sardischen Erfolgsautoren, die hier als Seelen
des Festivals wirken, sind mit allen im Dorf per Du.
„Vor ein paar Jahren war es eine Nachbarin, die mich drängte, nach Gavoi
mitzukommen“, erzählt Susanne Höhn, Chefin der Goethe-Institute in Italien,
„Lust hatte ich eigentlich nicht, ich erwartete mir nichts Besonderes –
aber dann war ich überwältigt.“
Überwältigt zum Beispiel davon, wie das Festival ganz selbstverständlich
zum Fest wird, spät abends, beim „Mirto mit dem Autor“. Da müssen die
Schriftsteller auf die Bühne, einer nach dem anderen, und werden von
Marcello Fois ins Verhör genommen.
Fehltritte, Peinlichkeiten, Tritte in Fettnäpfchen müssen sie beichten –
und nur wer eine ordentliche Geschichte zu bieten hat, erhält dann als Lohn
ein Glas Mirto, den sardischen Nationallikör. Am Ende aber, tief in der
Nacht, heben tausende Menschen ihre Becher, trinken auf die, die ihre
Geschichten zum Besten gegeben haben, auf Gavoi – und auf das nächste
Festival.
5 Jul 2012
## AUTOREN
Michael Braun
Michael Braun
## TAGS
Italien
Schriftstellerin
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